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- TitleVaihinger an Hans Delbrück, Halle, 29.2.1912, 8 S., hs. (andere Hd., mit eU und eigenhändigem Postkriptum), Briefkopf GEH. REG.-RAT | PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15., Staatsbibliothek zu Berlin, NL Delbrück Nr. 4
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, NL Delbrück Nr. 4
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Vaihinger an Hans Delbrück, Halle, 29.2.1912, 8 S., hs. (andere Hd., mit eU und eigenhändigem Postkriptum), Briefkopf GEH. REG.-RAT | PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15., Staatsbibliothek zu Berlin, NL Delbrück Nr. 4
29. Februar 1912.
Hoch geehrter Herr Kollege!
Wie mir Herr Direktor Dr. F. J. Schmidt vor einiger Zeit selbst mitgeteilt hat, wird er in den „Preußischen Jahrbüchern“ eine ausführliche Besprechung meiner „Philosophie des Als Ob“ veröffentlichen.
Wie ich nun zufällig von Anderen erfahre, hat er am vergangenen Sonnabend in der Berliner Philosophischen Gesellschaft über mein Buch einen Vortrag[1] gehalten, in welchem er dasselbe sehr schlecht behandelt hat. Er hat es, wie man derb zu sagen pflegt, „heruntergerissen“ in einer Weise und in einer Form, die weder dem Buch noch seinem Verfasser angemessen sind.
Es ist nun zu befürchten, daß auch der Artikel in den „Preußischen Jahrbüchern“ denselben Ton anschlagen werde. Es wäre dies sehr | bedauerlich. Es würde der Würde der Sache nicht angemessen sein, wenn der Ton des Artikels ins Persönliche verfiele oder derartig geringschätzig wäre, daß daran Anstoß genommen werden müßte.
Selbstverständlich kann ich nur wünschen, daß eine objektive, rückhaltlose Aussprache über mein Buch[2] stattfinde. Selbstverständlich kann ich auch nicht erwarten, daß die Vertreter der Metaphysik speziell des alten, absoluten Idealismus im Sinne der Fichte-Hegelschen Periode an meinem Buch Freude haben und ich muß es selbstverständlich über mich ergehen lassen, daß seitens dieser Richtung mein Buch verurteilt wird.
Aber ich kann doch andrerseits verlangen[3], daß das in einer würdigen Form geschieht und kann auch verlangen, daß die positive Bedeutung meines Buches zur Anerkennung gelangt, die von andern Seiten vielfach hervorgehoben worden ist. Vielleicht darf ich Ihnen in der Beilage eine Zusammenstellung[a] | des Verlegers überreichen, in welcher ein Teil der bisher erschienenen Urteile über mein Buch im Auszug enthalten ist.
Auch darf ich vielleicht anführen, daß mir brieflich von den verschiedensten Seiten, nicht blos von Philosophen, sondern auch von hervorragenden Theologen und Naturforschern sowie auch von Juristen, sehr anerkennende Worte zuteil geworden sind.
Es muß also doch etwas Positives in dem Buch geleistet sein, wodurch die Weiterentwicklung der Philosophie gefördert werden kann. Und ich darf verlangen, daß meinem Buche gegenüber in einem so angesehenen Organ nicht blos negatives Absprechen geübt wird. Selbst Herr Dr. Franz, welcher meinem Buche ebenfalls gegnerisch gegenübersteht, infolge seiner ganzen Richtung, hat wenigstens zum Teil die positive Bedeutung meines Buches anerkannt. |
Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang noch an folgendes erinnern.
Im Jahre 1864 im 14. Band der „Preußischen Jahrbücher“ hat der, sonst von mir hochverehrte Haym, einen ausführlichen Artikel über Schopenhauer veröffentlicht, in welchem er diesem Manne jede philosophische Bedeutung abspricht. Er stellt darin zum Schluß folgende Behauptung auf: in Zukunft werde die Geschichte der Philosophie nur zu erzählen haben, daß es einmal eine Zeit gegeben habe, in welcher ein Mann wie Schopenhauer überhaupt habe als Philosoph gelten können. Es ist wirklich interessant, hoch verehrter Herr Kollege, für Sie, wenn Sie das an Ort und Stelle nachlesen. So urteilt ein geistreicher Mann im Jahre 1864 über einen Philosophen, dessen Bedeutung seit dieser Zeit seit jedem Jahre immer mehr anerkannt worden ist, der in den Werken über die Geschichte der Philosophie eingehend behandelt wird, und über welchen hundert und aberhundert | von[b] Monographien, Dissertationen usw. erschienen sind, dessen Philosophie trotz ihrer Mängel, die aber auch jedem andern philosophischen System ankleben, das deutsche ja das europäische Geistesleben auf das Tiefste beeinflußt hat.
Etwa 10 Jahre später hat Haym wiederum einen Artikel in den „Preußischen Jahrbüchern“ veröffentlicht, in welchem er die Philosophie von Eduard von Hartmann in derselben Weise zersetzt ohne jegliches Verständnis für die positive Bedeutung dieses Mannes. Und jetzt treten seit mehreren Jahren gerade die „Preußischen Jahrbücher“ mit besonderer Wärme für die Philosophie von Eduard von Hartmann ein.
Auch darf ich vielleicht noch daran erinnern, daß einmal ein mit Recht längst vergessener Mann, ein Amtsrichter Sommer, | in den „Preußischen Jahrbüchern“ gegen Wundt aufgetreten[4] ist in einer Weise, welche diesem bedeutenden Mann durchaus nicht gerecht wurde.
Ich schließe mit der[c] Hoffnung, daß der zu erwartende Artikel des Herrn Direktor Dr. F. J. Schmidt sich diesem Vergangenen nicht anschließe. Natürlich kann ich nicht erwarten, daß er mir irgendwie zustimme, er muß mich seiner ganzen Richtung nach im Wesentlichen ablehnen, aber ich darf erwarten, daß das in einer Form geschieht, welche nicht blos dem Buche selbst angemessen ist, sondern auch der Stellung, die ich in der Wissenschaft einnehme.
In kollegialer Hochachtung Ihr ganz ergebener
H. Vaihinger[d] |
P. S.
Übrigens steht mein Buch der Hegel’schen Lehre doch nicht so fern, als es auf den ersten Blick erscheinen kann u. muß.
Erstens berühre ich mich mit Hegel darin, daß ich die Widersprüche und Unzulänglichkeiten der gewöhnlichen Verstandesbegriffe aufdecke, welche dem Wirklichen gar nicht gerecht werden, wenn sie auch andrerseits doch eben als Functionen dieses gewöhnlichen Verstandes eine relative Berechtigung haben.
Andrerseits berühre ich mit mich mit Hegel auch in der Betrachtung der Religion als eines Systems vorstellungsmäßiger, menschlich-endlicher Darstel|lungsweisen höherer, bes[onders] ethischer Ideen, gerade wie Hegel Religion und Philosophie auf die beiden Gebiete der Vorstellung und des Begriffs verteilt.
Endlich ist auch Hegels Lehre vom Widerspruch in meinen Ausführungen zu ihrem Recht und zu einer neuen Beleuchtung gekommen.
Fichte’s ethischer Idealismus ist von bedeutendem Einfluß auf die Ausbildung meiner Anschauungen gewesen.
V.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑einen Vortrag ] vgl. den Bericht über den Vortrag von Ferdinand Jakob Schmidt in der Philosophischen Gesellschaft Berlin vom 24.2.1912 (Samstag) in: Deutsche Literaturzeitung, Nr. 10 vom 9.3.1912, Sp. 619–620. Die Schlussworte lauten: Die Darlegung der ganzen Kultur als einer großen Fiktion läßt die Frage nach dem Fingierenden offen. Ist nicht der der Positivismus selber diese Fiktion? Vaihinger wird vorkritisches, materialistisches Denken attestiert.2↑Aussprache über mein Buch ] Vaihingers Werk wurde doppelt rezensiert von Erich Franz in: Preußische Jahrbücher 146 (Dezember 1911), S. 516–518 sowie von Ferdinand Jakob Schmidt in: Preußische Jahrbücher 148 (1912), S. 1–18.3↑andrerseits verlangen ] beigelegt ist ein weiteres Schreiben Vaihingers an ein nicht näher genanntes Mitglied der Redaktion (4 S., hs., Briefkopf GEH. REG.-RAT | PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15., Staatsbibliothek zu Berlin, NL Delbrück Nr. 4; das Zeichen / signalisiert Absatz): 1.III.1912 / Sehr geehrter Herr Doctor! / Wie mir Herr Director Dr Ferdinand Jakob Schmidt vor einiger Zeit selbst mitgeteilt hat, wird er in den „Preußischen Jahrbüchern“ eine ausführliche Besprechung meines Werks „Die Philosophie des Als Ob“ veröffentlichen. / Zur Orientirung über dies Buch sende ich Ihnen einige auf dasselbe bezügliche Drucksachen ein. / Diese Drucksachen habe ich gleichzeitig auch an Herrn | Geh. Rat Prof. Dr Delbrück gesendet, mit einem Begleitbrief, indem ich von vorneherein Verwahrung eingelegt habe gegen die Art und Weise, wie voraussichtlich Herr Dr Ferd. Jak. Schmidt über mein Buch sich äußern wird. / Denn, wie ich eben erfahren habe, war sein Vortrag über mein Buch in der Berliner Philos[ophischen] Gesellschaft in einem derartigen Ton gehalten, daß anzunehmen ist, daß auch sein Artikel denselben Ton anschlagen wird. / Ich kann natürlich nicht erwarten, bei einem Manne ganz andrer Richtung, wie es Herr Dr F. J. Schmidt ist, Zustimmung zu meinen Ideen zu | finden; auch ist mir eine objektive Beurteilung von gegnerischer Seite durchaus erwünscht. / Aber ich kann erwarten, daß der Ton, in dem diese Ablehnung geschieht, der Sache und dem Werke, auch seinem Verfasser angemessen ist, sowie auch der Stellung, die ich in der Wissenschaft einnehme. / Ich möchte daher dringend ersuchen, dem Artikel des Herrn Dr F. J. Schmidt jedenfalls in Bezug auf den Ton etwaige verletzende Spitzen persönlicher Natur | zu nehmen; solche würden sich doch recht schlecht machen in einem so vornehmen Organ, wie es die „Preußischen Jahrbücher“ sind, die mit Recht eine führende Rolle im deutschen Geistesleben beanspruchen. Dazu gehört aber auch, daß eine neue philosophische Richtung objectiv gewürdigt wird, und daß nicht dabei ein der Sache nicht angemessener Ton angeschlagen wird. / Im Voraus für Ihre freundlichen Bemühungen bestens dankend, Ihr hochachtungsvoll ergebener / H. Vaihinger.4↑gegen Wundt aufgetreten ] vgl. Hugo Sommer: Der ethische Evolutionismus Wilhelm Wundt’s. In: Preußische Jahrbücher 59 (1887), Heft 3 von März, S. 189–208.▲