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- TitleVaihinger an Hans Prager, Halle, 14.6.1911, 12 S., hs. (andere Hd., mit eU und eigenhändigem Postskriptum), Briefkopf PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15., Wienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-131783
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- Physical LocationWienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-131783
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Vaihinger an Hans Prager, Halle, 14.6.1911, 12 S., hs. (andere Hd., mit eU und eigenhändigem Postskriptum), Briefkopf PROF. DR. H. VAIHINGER. | Halle a. S., d. … 19 | Reichardtstr. 15., Wienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-131783
14.6 1911.
Sehr geehrter Herr!
Endlich komme ich dazu, Ihren freundlichen Brief nebst Einlage, die ich in Wilhelmshöhe erhalten[1] hatte, zu beantworten; auch jetzt ist mir noch immer der schlechte Zustand meiner Gesundheit sehr hinderlich, aber doch kann ich heute nun endlich die Sache erledigen.
Die Frage, ob Ihr Aufsatz[2] für die Zeitschrift für Philosophie (Prof. Schwarz) geeignet ist, kann ich in definitiver Weise nicht beantworten; ich bin dafür nicht competent. Jeder Redakteur sieht die Sache mit eigenen Augen an, und so steht mir ein Urteil darüber nicht zu. |
Indessen sollte ich meinen, daß diese Frage auch zunächst nicht in erster Linie für uns in Betracht kommt, sondern die Frage, wie Sie es mit der „Frankfurter Zeitung“[3] halten wollen.
Und da ist nun meine Meinung, daß es nicht zweckmäßig ist, bis zum Herbst zu warten, obgleich ja sicher ein Aufsatz unter dem Strich[4] noch besser wäre. Aber eine große Besprechung über dem Strich mit eigenem Titel, wie ja die „Frankfurter Zeitung“ solche bringt, ist ja auch von großem Wert, besonders wenn die Besprechung an die erste Stelle gestellt wird; und wenn nun eine solche Besprechung sogleich abgedruckt wird, so ist es günstiger, als wenn wir erst noch lange warten sollen.
So wäre denn nun meine Meinung, daß Sie von dem Aufsatz, den Sie mir | gesendet haben, einen kurzen Auszug machen, der ja schon eben als solcher einen etwas anderen Charakter annimmt, als der Aufsatz selbst, sodaß letzterer immer noch seinen eigenen Wert behält.
Bei dem Auszug würde m. E. darauf zu halten sein, daß Sie von den ersten 6 Seiten Ihres Manuskripts[5] vollständig absehen; diese Ausführungen sind in ihrer Weise ganz interessant, aber sie stehen mit dem Werk in keinem Zusammenhang und könnten für die Besprechung jedes beliebigen anderen Werkes als Einleitung dienen. In dem kurzen Auszug würden Sie also wohl richtiger sofort in mediam rem gehen[a], vielleicht mit folgender Vorbemerkung: für die philosophische Sachlage der Gegenwart, wie sie besonders durch die Erörterungen über | den Pragmatismus charakterisiert sei, und wie sie auch durch die heutige naturwissenschaftliche Erkenntnis-Theorie und Methodik einerseits, und die religionsphilosophische Lage andererseits geschaffen sei, sei das neue Werk von besonderer Bedeutung: es sei im Stande, in die philosophischen Fragen der Gegenwart entscheidend einzugreifen. Dann würden Sie wohl am besten eine referierende Uebersicht über die 3 Teile geben, und dann wiederum mit einer allgemeinen Charakteristik der Richtung und Bedeutung des Buches schließen; natürlich unter vollem Vorbehalt Ihrer abweichenden Meinung.
Wenn Sie den Artikel in dieser Weise gestalten, so können Sie dabei sehr Vieles wörtlich aus Ihrem Aufsatz herübernehmen, das würde dann auch den Vorteil haben, | daß[b] Sie vielleicht deutlicher schreiben würden. Ihre Handschrift ist sehr charakteristisch und erinnert an die[c] von Alexander von Humboldt[6]; aber sie ist auch ebenso schwer leserlich als letztere. z. B. Seite 20 ist das Wort: „wendet“ gar nicht zu lesen und nur, weil ich selbst in der Sache drin stecke, war es mir möglich, zuletzt doch noch das Wort zu erraten. Auch auf Seite 26 ist z. B. das Wort: „äquivalent[d]“ kaum herauszubringen, und so ist es noch mit vielen Wörtern, trotzdem Sie eine Anzahl von Wörtern auf dem Rand wiederholt haben; das hat eine sehr erschwerte Lektüre zur Folge[e] und das[f] macht einen Redakteur von vornherein verdrießlich. Wenn es Ihnen selbst zu mühsam ist, langsam zu schreiben, (auch mir selbst ist dies zu mühsam) so würden Sie am besten tun, Ihr Manuskript nachher in irgend einer | Schreibstube in Maschinenschrift umsetzen zu lassen, oder sonst deutlich abschreiben zu lassen.
Vielleicht darf ich noch Folgendes hinzufügen: die Ausführungen auf Seite 15 würde wohl besser an den Schluß gestellt werden, da sie das Referat unterbrechen[g].
Die Bemerkung auf Seite 30 unten (der Positivismus würde zum Nihilismus führen, wenn er nicht eben – Positivismus wäre) ist sehr fein und läßt Vieles erraten; aber wenn Sie den Aufsatz einer Zeitschrift einreichen, sollte der Gedanke doch weiter ausgeführt werden, da er in dieser Kürze zu verblüffend wirkt, ohne zu befriedigen. Zu Seite 23 darf ich noch bemerken: Sie sagen:[h] Begriffe, die die Grenzen unseres Erkennens übersteigen, sind „antinomienhaft“. Ich würde nicht | anerkennen, daß die Begriffe z. B. des unendlich Kleinen und unendlich Großen unsere Erkenntnis übersteigen – derart, daß die menschliche Erkenntnis nicht dazu hinreiche, daß sie aber für höhere Geister durchschaubar wären, welche eine höhere Erkenntnis hätten; sondern derartige Begriffe sind willkürlich gebildete Hilfs-Begriffe. Ich würde nicht sagen, daß sie im Sinne Kants transcendent sind; wie ich ja in meiner Selbstanzeige in den „Kantstudien“[7] gesagt habe, schließe ich alle und jede Transcendenz völlig aus.
Diese letzteren Bemerkungen sind vielleicht für Sie noch von Nutzen, wenn Sie den größeren Aufsatz für eine Zeitschrift redigieren. Einstweilen erscheint es mir aber am zweckmäßigsten, wenn Sie ohne weiteres Zögern möglichst eilig die | kurze Besprechung für die „Frankf[urter]-Zeitung“ zurechtmachen, und dabei müssen Sie natürlich darauf achten, den vorgeschriebenen Umfang nicht zu sehr zu überschreiten; etwas mehr können Sie ja wohl an die Redaktion schicken, aber nicht allzu viel.
Wenn Sie dann diese Besprechung an die „Frankf[urter]-Zeitung“ abgesendet haben, wollen Sie mich gütig davon benachrichtigen[8]. Auch würde es dann zweckmäßig sein, wenn Sie in dem Begleitschreiben an die Redaktion um recht baldigen Abdruck ersuchen. Ueber die Frage, wie Sie dann Ihren größeren Aufsatz unterbringen, können wir dann weiter verhandeln, wenn Sie erst einmal die Besprechung an die „Frankf[urter] Zeitung“ abgesendet haben. Natürlich ist | es[i] wünschenswert, daß die große Arbeit, die Sie auf das Werk verwendet haben, nicht verloren geht, und daß der größere Aufsatz jedenfalls untergebracht wird.
Vielleicht interessiert es Sie, die erste Besprechung meines Buches im Berliner Tageblatt[9] zu lesen; ich sende sie[j] Ihnen zur Ansicht mit der Bitte, sie[k] mir dann zurückzusenden, wenn Sie mir mitteilen können, daß die Besprechung an die „Frankf[urter] Zeitung“ abgegangen ist. Der Verfasser derselben ist Herr Dr. Sternberg, ein persönlicher Bekannter von mir, hat auch den Congreß in Bologna mitgemacht; er ist auch Mitglied der Kant-Ges[ellschaft]. Leider hat er sich in seiner Besprechung auch sehr kurz fassen müssen, sodaß er die Konsequenzen für die Religionsphilosophie vollständig hat übergehen müssen. Auch | er geht damit um, in einem größeren Aufsatz[10] seine Lektüre des Buches zu verwerten.
Mit[l] bestem Gruß Ihr
H. Vaihinger
Es ist hauptsächlich notwendig, daß Sie nun dieses Mal den Umfang, den Ihnen die Frankf[urter] Zeitung gewährt, nicht wesentlich überschreiten. Das macht natürlich viel Mühe und Sorgfalt nötig. Es ist leichter, ausführlicher zu schreiben, als kurz und knapp: wie schon die berühmte Madame de Sévingé in einer berühmt | gewordenen Stelle in einem Brief an ihre Tochter sagt: „Ich schreibe Dir einen langen Brief, weil ich zu einem kurzen keine Zeit habe“[11] – darin liegt sehr viel schriftstellerische Weisheit.
Es freut mich von Ihnen zu hören, daß es Sie nicht verdrießt, Ihren Artikel umzuschreiben. Wie oft haben berühmte Schriftsteller (so auch Kant) und berühmte Musiker (so auch Beethoven) ihre Sachen umgeschrieben! Manchmal 4, 5, ja 10mal, bis sie erst die definitive Fassung fanden.
Also machen Sie nun zuerst aus Ihrem Artikel die kurze | Besprechung für die Frankfurter Zeitung[m] zurecht, und Alles Übrige wird sich dann finden.
Ich finde allerdings, daß Ihre Handschrift in Ihrem Briefe an mich viel deutlicher ist, als in Ihrem Manuskript[n]. Ihr Brief ist mit lateinischen Lettern geschrieben, welche Ihnen offenbar mehr liegen, als die deutschen. Vielleicht nehmen Sie die lat[einischen] Lettern auch für Ihr Manuskript[o].
Nötigenfalls können Sie, wenn Sie wollen, mir auch Ihre neue Besprechung für die Fr[ankfurter] Z[eitung] vorher zusenden zur Durchsicht, aber ich denke, Sie werden nun den Umfang schon selbst richtig abmessen.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑Ihr Aufsatz ] gemeint ist die schließlich erschienene Rezension von Prager über Vaihiger: Die Philosophie des Als Ob in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 144 (1911, hg. von Hermann Schwarz), S. 191–199; vgl. das Manuskript einer Reinschrift: Wienbibliothek im Rathaus, Wien, H.I.N.-131827.3↑„Frankfurter Zeitung“ ] vgl. Vaihinger an Prager vom 5.5.1911 sowie die Besprechung über Vaihingers Buch von Hans Prager in: Frankfurter Zeitung, Nr. 258 vom 17.9.1911, Erstes Morgenblatt, Rubrik Literaturblatt.4↑Aufsatz unter dem Strich ] im Zeitungssatz der Ort des Feuilletons, über das untere Drittel der ersten zwei bis drei Seiten des ersten Buches hinweg; mit einem Strich quer über die Seite von den oberen beiden Dritteln der jeweiligen S. abgetrennt, die die Leitartikel und (politischen) Berichte enthalten; in Morgen- und Abendblättern der jeweiligen Tagesnummer mit unterschiedlicher Gewichtung.5↑Ihres Manuskripts ] nicht überliefert; zum Text der Rezension vgl. Vaihinger an Prager vom 10.6.1911.6↑erinnert an die von Alexander von Humboldt ] Faksimiles der Handschrift Alexander von Humboldts, von denen Vaihinger Kenntnis erlangt haben könnte, sind z. B. enthalten in: Correspondance inédite scientifique et littéraire recueillie et publiée par M. de la Roquette. Suivie de la Biographie des principaux correspondants de Humboldt et de notes, avec deux portraits de Humboldt, une représentation de sa statue et des facsimiles de son écriture. 2 Teile in 1 Bd. Paris: Guérin 1869, Teil 1, nach S. 416; sowie in: Facsimile eines Briefes von Alexander von Humboldt an Simon Moritz von Bethmann über einen Panama-Canal. 1824 (https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hebis:30-112935 (16.9.2024)). – In: Wilhelm Constantin Wittwer: Alexander von Humboldt. Sein wissenschaftliches Leben und Wirken den Freunden der Naturwissenschaften dargestellt. Mit Bildniß und Facsimile. Leipzig: Weigel 1861, ist eine Reinschrift von November 1856 faksimiliert (https://archive.org/details/bub_gb_wfI4AAAAMAAJ/page/n9/mode/2up (16.9.2024)).7↑in meiner Selbstanzeige in den „Kantstudien“ ] vgl. Vaihinger: [Selbstanzeige:] „Die Philosophie des Als Ob“. Mitteilungen über ein unter diesem Titel soeben erschienenes neues Werk. Von dessen Herausgeber H. Vaihinger: In: Kant-Studien 16 (1911), S. 108–115, hier S. 113: Das zeigt sich auch darin, dass der „Als-ob-Betrachtung“ bei Kant allein über hundert Seiten gewidmet sind (S. 613–733). Dieser Abschnitt enthält eine erschöpfende Monographie dieses bis jetzt fast ganz übersehenen Gesichtspunktes bei Kant. Der Verfasser stellt sich dabei durchgehend auf die Seite Kants und adoptiert Kants Ideenlehre in deren radikalerer Form, die halbkritische, dogmatisierende entschieden ablehnend; gemäss seinem sich durchaus an das Gegebene, Erfahrene haltenden, alles Transscendente leugnenden Positivismus, aber andererseits als Idealist festhaltend an den Ideen als nicht bloss nützlichen, sondern notwendigen Fiktionen der Menschheit. So will der Verfasser auch ein „Kantianer“ sein, aber ein Kantianer des 20. Jahrhunderts.10↑in einem größeren Aufsatz ] vgl. die beiden ausführlichen Auseinandersetzungen über Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob von Kurt Sternberg in: Kant-Studien 16 (1911), S. 328–338; sowie in: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft 21 (1912), Heft 5, S. 191–195.11↑„Ich … habe“ ] Wanderzitat der Weltliteratur; Zuschreibung unsicher. Im Briefwerk von Marie de Rabutin-Chantal, Marquise de Sévigné (1626–1696) nicht nachgewiesen. Bei Blaise Pascal: Les Provinciales ou Lettres écrites par Louis de Montalte à un provincial de ses amis et aux RR. PP. Jésuites sur le sujet de la morale et de la politique de ces Pères (1656/1657) heißt es unter dem Pseudonym Louis de Montalte in Brief Nr. 16: Je n’ai fait celle-ci plus longue que parce que je n’ai pas eu le loisir de la faire plus courte.▲