Bibliographic Metadata
- TitleErich Adickes an Vaihinger, Tübingen, 6.6.1911, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 b, Nr. 8
- Creator
- Recipient
- ParticipantsErich Adickes ; Artur Buchenau ; Erich Becher ; Carl Stumpf ; Alphons Dürr ; Edmund Husserl ; Ernst Meumann ; Franz Brentano ; Fritz Medicus ; Georg Ernst Dürr ; Goswin Karl Uphues ; Heinrich Maier ; Heinrich Spitta ; Immanuel Kant ; Karl Groos ; Konrad von Lange ; Oswald Külpe ; Marcus Herz ; Paul Barth ; Theodor Spitta ; Wilhelm Wundt
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 b, Nr. 8
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Erich Adickes an Vaihinger, Tübingen, 6.6.1911, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 b, Nr. 8
Tübingen 6/6 11.
(bis 8/6: Obertal, Schwarzwald[a]).
Hochgeehrter Herr College!
Schönsten Dank für Ihre wertvolle Gabe[1], an der (resp. an deren Inhaltsverzeichniss)[b] ich bisher leider nur hier und da etwas herumschnüffeln konnte. Im Juli aber werde ich ihn[c] näher kennen: in meinen philosoph[ischen] Übungen[2] werde ich ein Referat über Ihr Werk halten lassen und mich dann selbst in seinen Inhalt energisch vertiefen. Zu einer Besprechung freilich werde ich keine Zeit finden,[d] da alle möglichen Aufgaben meiner noch lauern, die rasch erledigt werden müssen. In der nächsten Woche erscheint der I. Band von Kants handschriftlichem Nachlass[3] und eine Schrift: „Kants Ansichten über Geschichte und Bau der Erde“[4]. Die letztere werde ich Ihnen zu meiner Freude übersenden | können, den Band der Akademie-Ausgabe leider nicht, da ich nur ein Minimum von Freiexemplaren bekomme. Nun ist der II. Band (Anthropologie) sofort in Angriff genommen und soll noch in diesem Jahr erscheinen. Dafür muss ich mit Macht Manuskript vorbereiten, dann sollen womöglich Ende dieses oder Anfang des nächsten Jahres noch 2 Schriften herauskommen: „Kant als Naturwissenschaftler“ und „Kant als Aesthetiker“[5]; die erstere ist in Gedanken schon fertig, zur zweiten bringen der II. und III. Akademieband (Anthropol[ogie] und Logik) das Material. Sie sehen also: Arbeit die Hülle und Fülle. Wie bei Kant hielt „ein Damm“[6] alle weitern Ausarbeitungen zurück: das war sein naturwissenschaftlicher Nachlass. Nun er gefallen ist, ergießt sich der Strom angesammelter Materialien.
Hoffentlich haben Sie für meine „Untersuchungen zu Kants phys[ischer] Geographie“ für die Kantstudien einen sachkundigen Referenten[7] gefunden. Was ich bisher von Besprechungen zu sehen bekam, war | ein lebendiger Beweis für den Tiefstand unserer literarischen Kritik. Nicht einmal die 3 oder 4 Seiten, auf denen ich meine Resultate zusammenfasste, kann die Bande (Arth[ur] Buchenau[8] im Litterar[ischen] Centralblatt eingeschlossen) richtig lesen und einen objektiven Auszug daraus machen; stattdessen berichten sie irgendeinen Blödsinn, den ich nie behauptet habe. Es ist wirklich deprimirend, wenn die Kritik nicht einmal imstande ist zu erkennen, worin das Neue besteht, was man bringt, und darüber rein objektiv zu berichten. Geht es mit den übrigen Recensionen in diesem Stil fort, dann werde ich ein Strafgericht abhalten, indem ich die Kerls öffentlich bloßstelle (ich bräuchte nur nebeneinander abdrucken zu lassen, was ich gesagt habe und was sie mich behaupten lassen).
Seit Donnerstag ist Kollege H[einrich] Maier zu Verhandlungen in Berlin u. Göttingen[9]. Ich fürchte sehr, dass er annimmt. Für den Fall, dass es geschieht, wüsste ich gern Ihre Meinung. Am liebsten hätte ich Külpe; aber ob er aus Bonn weggeht, ist mir mehr[e] als fraglich. Einen | experimentellen Psychologen können wir nur brauchen, wenn er sich allerseits umgesehen hat und neben der ganzen systematischen Philosophie (Aesthetik ist nicht erforderlich, da K. Lange[10][f] sie besorgt) auch[g] Geschichte der Philos[ophie] vertritt. Ausser experimentellen Psychol[ogen] ist ja nicht allzu viel Gescheites da. Wenn irgend möglich müssen wir uns aus Rücksicht auf Spitta[11] an Ordinarien halten, und zwar an solche von Erfahrung. Darum wird man auch kaum an Medicus[12] denken können, so sympathisch er mir als Mensch wäre. Hat er dort Erfolg mit Übungen und Vorlesungen gehabt? Ist er nicht etwas unproduktiv? oder nicht durch lange Wartezeit etwas rauer und pessimistisch geworden? Ich habe ihn seit[h] 10 Jahren nicht mehr gesehen. Was halten Sie von Becher[13], Dürr[14]? P[aul] Barth[15]?[i] Husserl hatte doch nur wenig Lehrerfolg[16] bei Ihnen? Schreiben Sie doch auch sonst, wen Sie etwa für passend halten. Die Sache wird noch schwieriger, da ja auch Leipzig und (nach Zeitungsnachrichten) auch Strassburg warten. Wissen Sie, in welcher Richtung dort[j] die Wünsche sich bewegen? Was hat denn eigentlich Meumann[k] bewogen, nach Hamburg zu gehen[17]? Konnte er doch schliesslich mit Wundt nicht auskommen?
Mit herzlichem Dank für Ihr Werk wie für kommende freundliche Auskunft[18] Ihr aufrichtig ergebener
Adickes.[l]
Kommentar zum Textbefund
a↑Schwarzwald ] Wort mit Blaustift und Bleistift von anderer Hd. doppelt angekreuzt (über das Wort hinweg)Kommentar der Herausgeber
1↑wertvolle Gabe ] eines Exemplars von Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob (1911), etwaiges Schreiben Vaihingers nicht ermittelt.2↑Übungen ] vgl. Adickes’ Ankündigung für das SS 1911: Übungen über erkenntnistheoretische und metaphysische Fragen im Anschluss an die neuere philosophische Literatur (http://idb.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/LXV11c_qt_1911#p=15 (3.9.2024)).4↑„Kants Ansichten über Geschichte und Bau der Erde“ ] erschien 1911 im Verlag Mohr (Siebeck), Tübingen.5↑„Kant … Aesthetiker“ ] vgl. Adickes: Kant als Naturforscher. 2 Bde. Berlin: de Gruyter 1924/1925. Außer: Kant als Ästhetiker. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1904, S. 315–338 erschien keine weitere Schrift von Adickes zu diesem Thema.6↑Wie bei Kant hielt „ein Damm“ ] Anspielung auf eine briefliche Äußerung Kants gegenüber Marcus Herz vom 24.11.1776.7↑sachkundigen Referenten ] vgl. die die philologischen Leistungen Adickes’ hervorhebende Besprechung von Kurt Sternberg: Adickes, Erich, Dr. Untersuchungen zu Kants physischer Geographie. Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck); Tübingen 1911. (344 S.). In: Kant-Studien 16 (1911), S. 289–291.8↑Buchenau ] Buchenaus kurze Anzeige erschien unter der Rubrik Länder- und Völkerkunde in: Literarisches Zentralblatt, Nr. 13 vom 25.3.1911, Sp. 425–426.9↑Maier zu Verhandlungen in Berlin u. Göttingen ] Heinrich Maier (1867–1933) wechselte 1911 von Tübingen, wo er 1900–1901 und wieder seit 1902 lehrte, als o. Prof. nach Göttingen. Sein Nachfolger in Tübingen wurde Karl Groos (1861–1946; BEdPh).10↑K. Lange ] d. i. Konrad von Lange (1855–1921), seit 1894 o. Prof. für Ästhetik und Kunstgeschichte in Tübingen (BEdPh).11↑Spitta ] der Tübinger Ordinarius für Philosophie Heinrich Spitta (1849–1929; https://d-nb.info/gnd/117483117 (3.9.2024)).12↑Medicus ] Fritz Medicus wechselte 1911 aus seiner Stellung als Privatdozent und Privatsekretär Vaihingers aus Halle an die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (BEdPh).13↑Becher ] Erich Becher (1882–1929), 1909 o. Prof. an der Universität Münster, 1916 Nachfolger Külpes in München (BEdPh).14↑Dürr ] Georg Ernst Dürr (1878–1913), Schüler Wundts, 1906 ao. Prof. in Bern, 1907 o. Prof. (BEdPh).16↑Husserl hatte doch nur wenig Lehrerfolg ] Edmund Husserl war 1887–1901 Privatdozent in Halle, dann ao. Prof. in Göttingen, 1916 o. Prof. in Freiburg (BEdPh). Carl Stumpf hatte an Franz Brentano aus Halle am 17.5.1888 berichtet: Husserl hat in seinen „Grundzügen der Psychologie“ etwa 12 Leute, worüber er sehr glücklich ist; die Konkurrenz ist eben hier sehr gross und Vaihinger und Uphues [Goswin Karl Uphues] arbeiten mit Dampf. Das ist für H. vielleicht gut; er bedarf der Anstachelung (zitiert nach Helga Sprung: Carl Stumpf – Eine Biographie. Von der Philosophie zur Experimentellen Psychologie. Unter Mitarbeit von L. Sprung. München/Wien: Profil 2006, S. 117–118).17↑nach Hamburg zu gehen ] Ernst Meumann (1862–1915), nach der Promotion u. a. Mitarbeiter Wilhelm Wundts, ging nach kurzem Intermezzo 1910/1911 in Leipzig 1911 als o. Prof. nach Hamburg an das öffentliche Vortragswesen (BEdPh).▲