Bibliographic Metadata
- TitleAlexius Meinong an Vaihinger, Graz, 21.5.1911, 3 S., Ts. mit eU, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 9 b, Nr. 3
- Creator
- Recipient
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 9 b, Nr. 3
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Alexius Meinong an Vaihinger, Graz, 21.5.1911, 3 S., Ts. mit eU, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXII, 9 b, Nr. 3
Graz, 21.V.1911.
Hochgeehrter Herr Kollege!
Vielen Dank für Ihr wertvolles Geschenk und die freundlichen Zeilen[1], die ihm um ein paar Tage vorausgingen[a]. Brief und Sendung traf mich bereits in nicht geringer Spannung, da die dem letzten Hefte der Kant-Studien beigegebene Buchhändler-Anzeige meiner Aufmerksamkeit natürlich nicht entgangen war. Ein groszes[b] Buch, das zweifellos von nichts Anderem als von Annahmen[2] handeln konnte, dazu vor etwa 35 Jahren abgefasst war und offenbar zu Ihnen in irgend einer vorerst noch ziemlich geheimnisvollen Beziehung stand: nun, Sie können sich denken, wie das mein sachliches und auch mein ganz persönliches Interesse auf sich zog, – und wie erfreut ich nun war, nicht nur über die Identität zwischen Herausgeber und Verfasser authentisch aufgeklärt, sondern auch in der Lage zu sein, in die mich so nahe betreffenden Ausführungen nun auch bereits direkten Einblick nehmen zu können. Natürlich konnte dieser Einblick, mitten zwischen laufende Arbeiten hinein, vorerst nur recht flüchtig ausfallen: aber ganz deutlich bestimmte Eindrücke hat er mir doch gebracht. Einmal etwas wohl recht Subjektives, das mit dem Umstande zusammenhängen wird, dass der fachmäszige[c] Philosophiebetrieb bei mir ungefähr um 1875 seinen Anfang genommen hat, also genau in der Zeit, da Ihr Buch konzipiert ist. Die Zeitstimmung, in der mir damals die zeitgenössische Philosophie zum ersten Mal und darum besonders lebendig entgegentrat, finde ich jetzt auf so mancher Seite Ihres Buches in ganz erstaunlicher Treue wiedergespiegelt[d]: es ist manchmal, als wollte längst verblühtes und längst entblättertes aus der Jugendzeit noch einmal zum Leben erwachen. | Schon etwas sachlicher ist das Staunen darüber, wie unheimlich viel Sie von den Annahmen zu einer Zeit gewusst haben, da mir von diesen Dingen und ihrer Bedeutung wohl noch so gut wie gar nichts aufgefallen sein dürfte. Und schon ganz sachlich mag das lebhafte Bedauern sein, daß Sie Ihr Wissen von all diesen Dingen so lange für sich behalten haben. Wenn die Publikation – man kommt aus der Subjektivität nun einmal so schwer heraus – wenigstens bereits vor einem Jahre erfolgt wäre, da ich die zweite Auflage meines Annahmenbuches ausarbeitete, wie sehr hätte das meiner Darstellung zu statten kommen können! Aber im Grunde ist es doch recht undankbar, wenn man dem Gebenden die Frage entgegenhält, warum er nicht schon früher gegeben habe. So wollen wir uns denn Alle herzlich dessen freuen, was uns durch Sie geschenkt worden ist, und Sie in keinem Zweifel darüber lassen, dass Sie damit zwar gewiss nicht zu früh, aber sicherlich noch viel weniger zu spät gekommen sind. Die Fülle des in Ihrem Werke aufgespeicherten empirischen Materials nicht minder als dessen namentlich erkenntnistheoretisch-logische Bearbeitung wird sich gewiss in Bälde fruchtbar erweisen für erfolgversprechende Weiterführung dieser Probleme. Was insbesondere die erkenntnistheoretische Seite der Sache anlangt, so dürfte es zwischen uns noch Berührungspunkte ganz anderer Art geben als in meinem Annahmebuch zur Geltung kommen. Ich meine die darin nur gestreiften Aufstellungen über ungenaues Erfassen von Gegenständen, das mir für meine Theorie der „Halbwahrnehmungen“ wichtig geworden ist. Vielleicht interessiert es Sie einmal gelegentlich, das Schlusskapitel meiner „Erfahrungsgrundlagen[3]“ darauf hin nachzusehen. |
Für Ihre freundliche Absicht, auch das Grazer Seminar mit einem Exemplar zu bedenken, danke ich bestens im Namen meiner Studierenden: dass Ihnen der Vorrat bald genug ausgegangen ist, kann ich mir denken, und mein Seminar soll, hoffe ich, darum des Gewinnes doch nicht entraten, der aus Ihrem Buche zu schöpfen ist. Ihrer diesbezüglichen Frage aber möchte ich eine Gegenfrage an die Seite stellen: besitzen Sie die zweite Auflage meiner „Annahmen“? Ich würde, nachdem Sie mit dem so lang geheim gehaltenen Jugendschatz endlich herausgerückt sind, natürlich ganz besonderen Wert darauf legen, wenn Ihnen das, was ich über die Annahmen zu sagen weisz[e], in der besten Gestalt zur Verfügung stünde, die ich meinen Aufstellungen bisher habe geben können, zumal die zweite Auflage sehr stark umgearbeitet ist. Haben Sie das Buch also nicht, so würde es mir zu ganz besonderer Freude gereichen, wenn Sie es auch noch drei Vierteljahre nach seinem Erscheinen als kleine Gegengabe sich gefallen lassen wollten.
Ueber Ihr Befinden lässt Ihr Brief leider wenig Befriedigendes vermuten: gern wüsste ich Näheres darüber. Handelt es, wie ich hoffe, sich nur um den ja wirklich lästigen Zustand vor der bevorstehenden Staar-Operation, so könnte ich aufgrund von Erfahrungen an nahen Bekannten wohl das Eine versichern, dass die Operation selbst, vom Stillliegen abgesehen, eine nur recht wenig beschwerliche, der Erfolg aber ein auszerordentlich[f] günstiger zu sein pflegt: das operierte Auge ist dann wirklich auch erstaunlich schwierigen Aufgaben gewachsen[g].
Mit besten Wünschen für baldige Wiederherstellung dankt nochmals und grüszt herzlichst Ihr aufrichtig ergebener
A. Meinong
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑von Annahmen ] vgl. Meinong: Über Annahmen. Leipzig: Barth 1902 (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Ergänzungsband 2); 2., umgearbeitete Aufl. 1910.3↑Erfahrungsgrundlagen ] vgl. Meinong: Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens. Berlin: Springer 1906 (Abhandlungen zur Didaktik und Philosophie der Naturwissenschaft Bd. 1,6).▲