Bibliographic Metadata
- TitleFerdinand Canning Scott Schiller an Vaihinger, Gersau, 13.4.1911, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 5 e
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 5 e
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Ferdinand Canning Scott Schiller an Vaihinger, Gersau, 13.4.1911, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 5 e
(Bis zum 24ten) Gersau
Vierwaldstätter See
Schweiz
13/4/11
Sehr geehrter Herr Professor!
Auf meiner Rückreise aus Bologna[1] hatte ich endlich die Musse u. A. auch Ihre Schrift über die Philos[ophie] des Als-Ob zu lesen. Ich fand dieselbe höchst interessant & bin überzeugt, dass Ihr Werk ein wichtiges & wertvolles[a] sein muss. Was mich aber, ohne es gelesen zu haben[2], veranlasst Ihnen zu schreiben ist die Tatsache dass Sie in Ihrem Vorworte eine Ansicht über den Pragmatismus aussprechen die nachweislich eine irrtümliche ist & die ich zufällig in Bologna grade ausdrücklich abgelehnt hatte. Ich erlaube mir daher Ihnen sofort einen Abdruck meines Vortrages zu senden, und hoffe Sie werden mir die Ehre antun mindestens die letzten 2 Seiten, | und besonders das Ende[3], zu lesen[b]. Sie werden daraus erstens entnehmen dass auch ich mich mit der[c] logischen Natur der Fiktionen beschäftigt habe, & sie von erprobten Wahrheiten zu unterscheiden weiss; zweitens dass ich gegen die Umkehrung des Satzes ‛alle Wahrheit ist nützlich’ protestiere (und es auch immer getan habe vgl. Humanism 1903[d][4] S. 38[5]); drittens dass ich zwischen ‛praktisch’ und ‛theoretisch’ ‛wahr’ keine Unterscheidung zulasse, sondern von allen Behauptungen eine strenge Erprobung & Bewährung verlange.
Nun weiss ich allerdings nicht genau[e] wen Sie unter ‛den unkritischen Pragmatismus’ verstehen wollen, sondern nur dass keiner der Hauptvertreter dieser Richtung von Ihrer Darstellung betroffen wird. Wäre es dann nicht gerechter wenn Sie die Ausdrücke etwas milderten[6], oder doch erklärten wen & was Sie speziell damit gemeint haben? Ich weiss es war vor einiger Zeit ein Hauptvergnügen des philosophischen Pöbels auf den | Pragmatismus[f] im Allgemeinen zu schimpfen (ohne jedoch je Belege zu bringen), aber bei Ihrem Ruf & Ihrer Stellung ist das ja natürlich ausgeschlossen. Um so bedauerlicher scheint es mir dass sich einige Wendungen so deuten lassen als ob Sie diesen grundverkehrten Auffassungen Vorschub leisten wollten. Dann stünden Sie ja als eines der abschreckendsten Beispiele der Verirrungen da, die ich zum Schluss meines Vortrages erwähnte! Schliesslich möchte ich noch darauf verweisen dass Sie ja selbst dem verpönten unkritischen ‛Pragmatismus[g]’ sehr nahe stehen. Wenigstens scheint mir der Unterschied zwischen den Lehren ‛was uns nützt ist wahr’ (S. X) & ‛was uns nützt ist berechtigt’ (‟darum berechtigte” sagen Sie S. XVI[7]), nur darin zu bestehen dass Sie ‛Fiktionen’ anstatt ‛Wahrheiten’ sagen. Aber vom sittlichen Standpunkte aus scheint diese kleine Wortänderung doch durchaus keine Verbesserung zu sein. |
Mit der Darstellung der echten pragmatischen Auffassung, sowie der Kritik die dieselbe an dem Kantischen ‛Als-Ob’-Verhalten üben muss, verschone ich Sie, da ich nicht weiss ob diese Dinge Sie interessieren würden, und zeichne mit vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener
F. C. S. Schiller
P. S. Bologna war sehr lustig, & die Abwendung vom Rationalismus seit 1908 Heidelberg[8] sehr bemerkbar. Alles schwärmte für Bergson, & auch ich war, statt eines wilden, ein grosses Tier! Schade dass Sie nicht gekommen: wir hätten uns dann u. A. auch mündlich aussprechen können.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑ohne es gelesen zu haben ] so wörtlich; F. C. S. Schiller bezieht sich wahrscheinlich auf den auf dem Kongress verteilten Auszug, vgl. Vaihinger an Hans Prager vom 15.4.1911.3↑das Ende ] der Schlussabsatz von F. C. S. Schiller: Error. In: Atti del IV Congresso Internazionale di Filosofia. Vol. 1. Genova [Genua]: Formiggini 1911, S. 140–153 (https://doi.org/10.5840/wcp41911114 (3.9.2024); auch abgedruckt in: Proceedings of the Aristotelian Society 11 (1911), Ausgabe vom 1.6.1911, S. 144–165) lautet: My aim in this address has been to enunciate a series of, to me, obvious truisms. But it is possible that I may have failed, and may have seemed to some to have developed instead a mass of subtle distinctions. If so, this will be the best proof that my distinctions were even more necessary that [!] I thought. And in any case I hope I may have said something to check a grotesque «conversion» which its critics are so fond of attributing to Humanism. We have never asserted or imagined that it is possible to pass from the dictum «all truths work» to « all that works is true»[.] But I fear that those who have imagined that we had said this, have not themselves distinguished clearly in their minds between truth and error and lying and assumption, and the parts they severally play in knowledge. Hence it seemed not untimely to show how the humanist theory of knowledge makes a special point of discriminating what intellectualist theories have always confused.5↑S. 38 ] vgl. die digitale Reproduktion des Buches: https://www.biodiversitylibrary.org/item/57381#page/66/mode/1up (6.2.2023).6↑Ausdrücke etwas milderten ] vgl. Vaihinger: Vorrede des Verfassers. In: Die Philosophie des Als Ob (1911; dem IV. Internationalen Kongress für Philosophie in Bologna überreicht), S. X–XI: Das vierte Moment ist der Pragmatismus, der erst seit einigen Jahren aufgekommen ist. Beim Pragmatismus muß man scharf die unkritischen Übertreibungen von dem Wertvollen scheiden. Der unkritische Pragmatismus ist ein erkenntnistheoretischer Utilitarismus schlimmster Art: was uns nützt, was uns hilft, das Leben zu ertragen, ist wahr, also sind die abergläubischsten Dogmen wahr, weil sie sich als Lebensstützen „bewährt“ haben. Damit wird die Philosophie wieder zur ancilla theologiae, ja das Verhältnis ist sogar noch schlimmer: denn damit wird die Philosophie gerade zur meretrix theologorum. Aber es ist nun einmal so in der Welt, daß das Beste auch am Schlimmsten mißbraucht werden kann. So hat der unkritische Pragmatismus einen richtigen Gedanken mißbraucht, der dem System von Kant angehört was in dieser Schrift ebenfalls nachgewiesen worden ist (S. 613–733). Es ist das der Gedanke, daß es Vorstellungen gibt, welche vom theoretischen Standpunkt aus direkt als falsch erkannt werden, die aber dadurch gerechtfertigt sind und darum als „praktisch wahr“ bezeichnet werden können, weil sie uns gewisse Dienste leisten. Dies war wohl auch der Grundgedanke, der dem eigentlichen Vater des Pragmatismus, der aber dessen spätere Entwicklung mißbilligte, C. S. Peirce im Jahre 1878 vorschwebt [!], als er die ersten Grundlagen in diese Richtung kurz skizzierte, also wieder genau um dieselbe Zeit, als das vorliegende Werk entstand, in welchem derselbe Grundgedanke zur Grundlage eines ganzen Systems der Erkenntnistheorie gemacht worden ist. – Vaihinger hat diese Passage später geändert (ancilla lat. Magd, meretrix lat. Hure), vgl. die ab der 2. in allen späteren Auflagen abgedruckten Vorbemerkungen zur Einführung, hier nach der 9./10. Aufl. 1927, S. XXVII: Das vierte Moment ist der Pragmatismus, der erst seit einigen Jahren aufgekommen ist. Beim Pragmatismus muss man scharf die unkritischen Übertreibungen von dem Wertvollen scheiden. Das Wertvolle des kritischen Pragmatismus, das besonders von James und Schiller weitergebildet worden ist, liegt in dem Kampf gegen einen einseitigen Intellektualismus und Rationalismus, der das logische Denken von seinem Mutterboden loslöst und diesem isolierten Denken allein Wert und Wahrheit zuschreibt. Der unkritische Pragmatismus dagegen ist ein erkenntnistheoretischer Utilitarismus schlimmster Art: was uns nützt, was uns hilft, das Leben zu ertragen, ist wahr, also sind die abergläubischsten Dogmen wahr, weil sie sich als Lebensstützen „bewährt“ haben. Dadurch kann Missbrauch entstehen. Aber es ist nun einmal so in der Welt, dass das Beste auch am Schlimmsten missbraucht werden kann. So hat der unkritische Pragmatismus einen richtigen Gedanken missbraucht, der dem System von Kant angehört was in dieser Schrift ebenfalls nachgewiesen worden ist (S. 613–733). Es ist das der Gedanke, dass es Vorstellungen gibt, welche vom theoretischen Standpunkt aus direkt als falsch erkannt werden, die aber dadurch gerechtfertigt sind und darum als „praktisch wahr“ bezeichnet werden können, weil sie uns gewisse Dienste leisten. Dies war wohl auch der Grundgedanke, der dem eigentlichen Vater des Pragmatismus, C. S. Peirce im Jahre 1878 vorschwebte, als er die ersten Grundlagen in diese Richtung kurz skizzierte, also wieder genau um dieselbe Zeit, als das vorliegende Werk entstand, in welchem derselbe Grundgedanke zur Grundlage eines ganzen Systems der Erkenntnistheorie gemacht worden ist.7↑sagen Sie S. XVI ] bei Vaihinger: Vorrede des Verfassers. In: Die Philosophie des Als Ob (1911), S. XVI heißt es: [Die Philosophie des Als ob zieht den] Namen eines „idealistischen Positivismus“ vor, in welchem ja auch die beiden Richtungen vertreten sind, welche Kant in seinem Kritizismus vereinigen wollte. Hier treten diese aber in einer etwas anderen Kombination auf, welche den Anspruch erhebt, mindestens ebenso berechtigt zu sein, wie die anderen philosophischen Richtungen der Gegenwart. Ja, man wird ohne Überhebung sagen dürfen, daß ein solcher idealistischer Positivismus (oder wenn man lieber will: ein solcher positivistischer Idealismus) darum auch die Zukunft für sich hat, weil er eben Tatsachen und Ideale in sich vereinigt, und zwar nicht blos derart, daß hier ein System der Erkenntnistheorie geboten wird, sondern derart, daß hierin auch die Keime zu einer voll befriedigenden Welt- und Lebensanschauung enthalten sind. Diese Ansätze zur Entfaltung und zum Ausdruck zu bringen, muß der Verfasser denjenigen seiner Leser überlassen, in denen seine Ausführungen mit gleichgearteten und verwandten Gedankengängen, Gefühlslagen und Willenstendenzen zusammenstoßen.8↑1908 Heidelberg ] Veranstaltungsort des III. Internationalen Kongresses für Philosophie; mit mehrstündiger Diskussion über den Pragmatismus im Anschluss an die Vorträge von F. C. S. Schiller und A. C. Armstrong, vgl. Theodor Elsenhans (Hg.): Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie zu Heidelberg 1. bis 5. September 1908. Heidelberg: C. Winter 1909, S. 711–740.▲