Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Paul Natorp, Halle, 5.5.1903, 7 S., hs. (andere Hd., eU), Briefkopf Redaction der „Kantstudien“ | (Verlag von Reuther und Reichard, Berlin) | Prof. Dr. Vaihinger | Halle a. S. | – Priv.-Doc. Dr. Scheler | Jena. | HALLE a. S., den … | Reichardtstrasse 15., Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1068
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- Physical LocationUniversitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1068
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Vaihinger an Paul Natorp, Halle, 5.5.1903, 7 S., hs. (andere Hd., eU), Briefkopf Redaction der „Kantstudien“ | (Verlag von Reuther und Reichard, Berlin) | Prof. Dr. Vaihinger | Halle a. S. | – Priv.-Doc. Dr. Scheler | Jena.[a] | HALLE a. S., den … | Reichardtstrasse 15., Universitätsbibliothek Marburg, Ms. 831/1068
5.V.03.
Verehrter[b] Herr Kollege
Wie Sie aus der Beilage[1] ersehen, um deren gütige Rücksendung ich bitte, hat Dr. Scheler die Redaktion der Kant-Studien[c] aufgekündigt. Er hat die Verpflichtung, den Band VIII ordnungsgemäß zu Ende zu führen, d. h. also etwa bis zum Ende des Jahres die Geschäfte zu führen. Ich habe seine Kündigung sofort angenommen, da er in der Tat durchaus keine geeignete Persönlichkeit[2] ist, wie er ja selbst einsieht.
Als ich vor bald 2 Jahren die Absicht äußerte, die Redaktion abzugeben, bat mich die Verlagsbuch|handlung[3], mich an Eucken zu wenden[4]. Eucken hatte durch seinen Beitrag über Thomas v. Aquino und Kant[5] den Kant-Studien[d] sehr genützt und sich der Verlagsbuchhandlung sehr entgegenkommend gezeigt. So kam sie auf diesen Wunsch. Ich erfüllte denselben, und Eucken brachte Scheler in Vorschlag. Ich war damals nervös sehr angegriffen und griff unbedenklich zu. Es zeigt sich nun, dass die Wahl der Persönlichkeit keine glückliche war.
Ich wende mich nun – und zwar zuerst und direkt – an Sie, verehrter Herr Kollege, in der festen Überzeugung, dass Sie der einzige geeignete Mann sind, die Sache weiter zu führen. Sie sind seitdem von der Geschäftsführung des Archivs[6] f[ür] syst[ematische] Philos[ophie] zurückgetreten, so dass Ihre Zeit und Kraft für dies | Unternehmen frei geworden ist. Sie haben Jahre lang als Redakteur fungirt und kennen die Licht- und Schattenseiten dieser Tätigkeit.
Ich brauche nicht weiter auszuführen, dass und warum Sie als ein Hauptvertreter der Kantischen Philosophie der richtige Mann sind. Sie eignen sich besser als ich zum Redakteur von Kantstudien, insofern Sie Kant um mehrere Grade näher stehen als ich. Und doch haben Sie andererseits bei Ihrer früheren Redaktionstätigkeit so große Objektivität bewiesen, dass Sie auch die Kant-Studien[e] in ebenso objektiver Weise redigiren würden. Ich würde es aber durchaus nur in der Ordnung finden, wenn die sog[enannte] Marburger Schule in denselben noch mehr als bisher zur Geltung[7] käme – unbeschadet des | sonstigen objektiven Charakters der Zeitschrift. Ich würde also hierin nur einen Vorteil sehen für die Zeitschrift, und ich glaube nicht weiter ausführen zu dürfen, dass auch Sie und die Marburger Schule durch die Zeitschrift Vorteil hätten.
Ich bemerke, dass man die Arbeit an den Kant-Studien[f] dadurch sehr vermindern kann, dass die Bibliographie und die Indices entweder ganz wegfallen oder wenigstens in einer viel bescheideneren Weise auftreten. Einen außerordentlichen Vorteil gewähren die Kant-Studien[g] dem Redakteur insofern, als kein zeitlicher Zwang besteht, die Hefte fertig zu stellen. Ich habe die Einrichtung von vorne herein absichtlich so getroffen, dass die Hefte zwanglos erscheinen; ich habe den außerordentlichen Vorteil | stets[h] aufs angenehmste empfunden, niemals gehetzt zu sein, ein Heft rasch fertig zu stellen um des Termins willen. Auch ist man dadurch in der Wahl der Aufsätze sehr viel freier, da man ja nicht notwendig hat, ein bestimmtes Quantum in bestimmter Zeit zu füllen.
Die früher erwähnten finanziellen Schwierigkeiten[8] sind nicht unüberwindlich. Am leichtesten ließen sich dieselben dadurch heben, dass ein Wechsel der Verlagsbuchhandlung eintreten würde. Die jetzige Verlagsbuchhandlung hat nicht den nötigen finanziellen Hintergrund, um Autorenhonorare zu bezahlen. Ich habe aber schon mit der | Dürr’schen Verlagsbuchhandlung, mit der Sie ja auch in Verbindung stehen[9], mich ins Vernehmen gesetzt, und Dürr hat mir persönlich erklärt, dass er event[uell] bereit wäre, die Kant-Studien[i] zu übernehmen und Honorare zu bezahlen. Ich glaube, dass Reuther & Reichard die Kant-Studien[j] unter solchen Umständen – wenn auch ungern – abgeben[10] würden.
Wenn es nicht gelingt, einen Ersatz für mich zu finden, so muss ich die Kant-Studien[k] eingehen lassen, und ich glaube, dass das sehr viele Leute bedauern würden. Ich könnte das aber nicht ändern, da die Rücksicht auf meine Augen mich absolut nötigt, meine Arbeit einzuschränken, und dieselbe auf meine übrigen wissenschaftlichen | Aufgaben zu konzentriren. Hauptsächlich muss ich mich hüten, Manuskripte und Briefe zu lesen.
Es fragt sich nun zunächst, ob Sie im Allgemeinen geneigt sind, dem Gedanken näher zu treten[11]? Wenn das der Fall ist, so würde ich Sie in nächster Zeit einmal über einen Sonntag in Marburg persönlich aufsuchen, um Alles mündlich zu besprechen.
Mit kollegialem Gruß Ihr ergebenster
H. Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
4↑an Eucken zu wenden ] ein diesbezügliches Schreiben Vaihingers an Rudolf Eucken ist nicht überliefert, eine Empfehlung Euckens für Scheler ebensowenig.5↑Beitrag über Thomas v. Aquino und Kant ] vgl. Rudolf Eucken: Thomas v. Aquino und Kant. Ein Kampf zweier Welten. In: Kant-Studien 6 (1901), S. 1–18.6↑Geschäftsführung des Archivs ] Natorp hatte die Zeitschrift Archiv für systematische Philosophie 1895–1901 geleitet, vgl. Natorp an Vaihinger vom 11.12.1895.7↑Marburger Schule in denselben noch mehr als bisher zur Geltung ] der Marburger philosophischen Schulbildung um Cohen und Natorp fehlte ein eigenes Publikationsorgan, dessen Funktionen ab 1906 nur unvollständig mit der in loser Folge erscheinenden Reihe Philosophische Arbeiten (hg. v. Cohen und Natorp) erfüllt wurden. Zu den Überlegungen Natorps über eine dezidiert Marburger Zeitschrift vgl. Natorp an Albert Görland vom 6.7.1902, 26.5.1903 u. 6.7.1903 (Holzhey: Cohen und Natorp Bd. 2, S. 278–280 u. 319–320).8↑früher erwähnten finanziellen Schwierigkeiten ] vgl. Vaihinger an Natorp vom 9.5.1901 u. vom 25.6.1901.10↑abgeben ] ein Verlagswechsel trat erst mit dem 28. Jahrgang 1923 ein (Pan-Verlag Rolf Heise, Berlin), vgl. Akten des Kuratoriums der Universität Halle-Wittenberg, hier: Akten, die Kantgesellschaft und die Kantstiftung betreffend, UA Halle Rep. 6 Nr. 1862. [gestr.: Königliches] Universitäts-Kuratorium zu Halle a. S. General-Acten betreffend Kantgesellschaft und Kantstiftung. 1904–1943. Teil I und II. Teil I enthält u. a. Vertrag zwischen dem Verlag Reuther & Reichard, Berlin, Hans Vaihinger und Bruno Bauch über Verlag und Redaktion der Zeitschrift Kant-Studien vom 9. Dezember 1903 (Abschrift). Dazu Ergänzungen u. Änderungen vom 15./16.5.1905 u. 2./4.7.1914. 1916 Kündigung seitens der Kantgesellschaft, Rücknahme der Kündigung im selben Jahr; dazu die Bewerbung des PAN-Verlages/Rolf Heise, Berlin-Charlottenburg um Übernahme der Zeitschrift.11↑dem Gedanken näher zu treten ] vgl. Natorp an Vaihinger vom 11.5.1903 sowie den weiteren Verlauf der Korrespondenz.▲