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- TitleGerardus Johannes Petrus Josephus Bolland an Vaihinger, Leiden, 21.11.1900, 6 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 e, Nr. 2
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 e, Nr. 2
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Gerardus Johannes Petrus Josephus Bolland an Vaihinger, Leiden, 21.11.1900, 6 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 3 e, Nr. 2
Leiden 21 Nov[ember] 1900.
Verehrter Herr College,
Wenn Sie beabsichtigen, meinen Namen in den „Kantstudien“ zu registrieren[1], so wäre es wol am geeignetsten, zunächst meine Abhandlung über Hegel[2] zu nennen, welche 1898 in der „Zweimonatlichen Zeitschrift“ („Tweemaandelijksch Tijdschrift“)[a] SS[b] 38–97 und 234–292 erschienen ist: dort finden Sie über das Verhältnis zwischen Kant und Hegel Ausführlicheres.[c] Uebrigens habe ich bei der Uebersendung meines Aufsatzes über „Einheit Entgegengesetzter“[3] an Ihre „Kantstudien“ nicht gedacht; ich habe bloß den[d] besten deutschen Kenner Kants eine Anregung geben wollen, von dem nachgerade abgedroschenen Studium der verworren gedachten und verworrener geschriebenen Vernunftkritik zum eigentlichen Hauptwerk reiner Vernunftlehre, zur Hegel’schen Logik, fortzuschreiten. An Kant sind Sie nachgerade zum Strohdrescher geworden; in Bezug auf Hegel bleibt Ihnen noch Ungeahntes zu thun übrig. Nachdem Sie auf Ersteren gründlich zurückgegangen sind, haben Sie jetzt ebenso gründlich bis zu Hegel fortzuschreiten, denn der hat nun ein|mal im Princip geleistet was Kant nur angekündigt hatte, – ein System der (zum Begriff ihrer selbst gelangenden) reinen Vernunft. Wenn auch in Hegel’s Logik dieses System mit menschlichen Unzulänglichkeiten schwer behaftet erscheint, so verhindert dies doch nicht, dass mit ihr verglichen die Kant’sche Vernunftkritik ein bloßer Embryo zu heißen hat, und es giebt in der Jetztzeit Nicht-Deutsche, die besagte Wahrheit besser einsehen als die deutschen Herren. So sagt z. B. G. Noël[e] in seinem Buch über „la Logique de Hégel“[4], welches Sie natürlich nie gelesen haben: „Le système de Hégel n’est que celui de Kant, débarrassé de ses inconséquences. Celui-là n’a fait que donner leur entier et harmonieux développement aux principes féconds que celui-ci avait posés. L’ébauche géniale, mais incomplète et incohérente laissée par Kant atteint avec Hegel la perfection de l’oeuvre achevée. – Nous croyons que la Logique, quelles qu’en soient les imperfections, reste une oeuvre solide et durable. – Est-elle autre chose qu’une critique des catégories, critique incontestablement plus profonde que la critique kantienne? – On ne peut s’en tenir à Kant. Il faut reculer jusqu’à Hume, ou avancer | jusqu’à Hegel. – L’Hégélianisme, négligé mais non réfuté, abandonné aux vaines déclamations et aux railleries faciles des esprits superficiels, conserve pour […][f] ainsi dire son actualité. – Est-ce à dire que nous devions nous faire hégéliens? Si ce terme doit impliquer une adhésion entière et sans réserve à toutes les doctrines professées par Hegel, ce serait demander l’impossible. La philosophie de Hegel est une véritable encyclopédie. Il ne se peut que dans une oeuvre aussi complexe toutes les parties aient une égale valeur. – (D’ailleurs,) les rois de la pensée ont pour mission d’émanciper l’esprit et non de l’asservir. – Nous sommes moins que jamais disposés à jurer sur la parole d’un maître quel qu’il soit. Si donc nous devenons hégéliens, ce ne peut être qu’au sens large du terme. Nous subirons l’influence de Hegel comme actuellement nous subissons celle de Kant. – En définitive chacun de nous ne peut-il penser qu’avec sa propre raison. Mais, parmi les maîtres les plus éminents de l’intelligence humaine, Hegel a, croyons-nous, sa place marquée, et le dernier venu des grands systèmes philosophiques | nous semble appelé à exercer sur les esprits une influence aussi profonde et aussi durable que les plus célèbres des doctrines antérieures.“
Es ist peinlich zu sehen, wie dieses Bewusstsein den deutschen Fachmännern so ganz und gar abhanden gekommen, wie in dem Vaterlande Hegels die „verständigen“ Logiker und „unaufgehobenen“ Metaphysiker aufs neue sich breitzumachen fortfahren, als ob ein vernünftiges System reiner Vernunft nie geschrieben worden wäre. Jeder Pfuscher und verspecialisierter Philosophieprofessor nimmt unter Euch gelegentlich über den Vollender Kants den Mund voll, ohne über ihn etwas Anderes als – ahnungsloses und albernes Zeug vorzubringen, und Sie selbst wie jeder Andere verraten gelegentlich, dass Ihnen die große Logik Hegels, das eigentliche Centralwerk reiner Vernunft, ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch geblieben. Und missverstehen Sie ja diese meine Aeußerung nicht: ich selbst bin keineswegs ein Hegelianer im alten und anfänglichen Sinne des Wortes, und eigentlich fühle ich mich nur in dem Sinne „Neuhegelianer“, wie Sie z. B. Sich immer noch als „Neukantianer“ fühlen dürften. Auch mir gilt es als Wahrheit, dass über|haupt der Buchstabe ertötet und es nur der Geist ist, der da belebt, und namentlich die Hegel’schen Specialausführungen außerhalb der reinen Vernunftlehre fallen bei mir nicht sonderlich mehr ins Gewicht. Dies aber sage ich Ihnen nach einer Hegellectüre, wie wenig Deutsche dieselbe[g] werden durchgemacht haben: das allermeiste desjenigen, was im Laufe des Jahrhunderts wider die Hegel’sche Logik vorgebracht worden, ist der reine Missverstand gewesen, und das eigentliche Hegelstudium außerhalb der jetzt ja toten Schule selbst soll immer noch erst anfangen. Trendelenburg hat von Hegel nichts verstanden, der Haym womöglich noch weniger, und selbst was E. v. Hartmann in seiner Jugend über dialektische Methode geschrieben, ist reines Gewäsche gewesen. Sogar in seiner Geschichte der Metaphysik[5] bringt er über Hegel neuerdings nur Unvernünftiges vor. Thatsächlich will in dieser Angelegenheit fast Jedermann urteilen, ohne dass er gehörig und hinreichend studiert hätte, was wenigstens bei Ihnen nicht in der Absicht liegt, wenn Sie auch von Hegel bis jetzt nicht viel mehr verstehen als die Uebrigen. Erlauben Sie mir deshalb, Ihnen einmal die Lectüre | (sagen wir zunächst) des alten Gabler[h]’schen Lehrbuches der philosophischen Propädeutik[6] und des (J. E.) Erdmann[i]’schen Grundrisses der Logik und Metaphysik[7] zu empfehlen; wenn Sie nachher etwa S. 62–68 in der Vera’schen Schrift über „l’Hégélianisme et la Philosophie“[8], sowie die „Philosophie der Mathematik“[9] von C. Frantz und den „Versuch einer Philosophie der Mathematik“[10] von H. Schwarz[j] durchsehen wollen, so wird es bald anfangen Ihnen einzuleuchten, dass Sie eigentlich …..[k] noch nie reine Vernunftkritik systematisch oder vielmehr methodisch betrieben haben.
Mit aufrichtiger Hochachtung vor Ihrem nichtsdestoweniger schon jetzt gegebenen Verdienste grüße ich Sie freundlichst.
G. J. P. J. Bolland.[l]
Kommentar zum Textbefund
l↑G. J. P. J. Bolland. ] unten links auf der S. Bleistiftnotiz von anderer Hd.: [ein unleserliches Wort: Erledigt?] III, 179. | MedicusKommentar der Herausgeber
2↑Abhandlung über Hegel ] vgl. Bolland: Hegel. Eene historische studie. In: Tweemaandelijksch tijdschrift voor letteren, kunst, wetenschap en politiek. 4e jaargang supplement, September 1898 1e helft, November 1898 2e helft, S. 38–97 u. 234–292 (zugänglich via https://www.dbnl.org/tekst/_twe002189801_01/index.php (27.8.2024)). Nicht in Kant-Studien aufgeführt.3↑Aufsatzes über „Einheit Entgegengesetzter“ ] vgl. die Auflistung unter der Rubrik Sonstiges neu Eingegangenes in: Kant-Studien 6 (1901), S. 348: Bolland, G. J. P. J. Eenheid van Tegendeelen. Eene Proeve van Spraakleer der Wetenschap. Amsterdam, Scheltema & Holkema, 1900. Dt. etwa: Einheit der Gegensätze. Ein Versuch über Sprachkunde der Wissenschaft.4↑„la Logique de Hégel“ ] vgl. Georges Noël: La Logique de Hegel. Paris : Félix Alcan 1897, Zitate nach S. 5, 111, 150, 158, 182, 185, 186 u. 200.5↑Geschichte der Metaphysik ] vgl. Eduard von Hartmann: Geschichte der Metaphysik. 2 Bde. Leipzig: Haacke 1899–1900.6↑Lehrbuches der philosophischen Propädeutik ] vgl. Georg Andres Gabler: Lehrbuch der philosophischen Propädeutik als Einleitung zur Wissenschaft zu akademischen Vorlesungen und zum Selbststudium. Erlangen: Palm 1827.7↑Grundrisses der Logik und Metaphysik ] vgl. Johann Eduard Erdmann: Grundriß der Logik und Metaphysik : für Vorlesungen. Halle: Lippert 1841 und weitere Aufl.8↑„l’Hégélianisme et la Philosophie“ ] vgl. Augusto Vera: L'Hégélianisme et la Philosophie. Paris: Ladrange 1861.9↑„Philosophie der Mathematik“ ] vgl. Constantin Frantz: Die Philosophie der Mathematik. Zugleich ein Beitrag zur Logik und Naturphilosophie. Leipzig: Breitkopf und Härtel 1842.10↑„Versuch einer Philosophie der Mathematik“ ] vgl. Hermann Schwarz: Versuch einer Philosophie der Mathematik verbunden mit einer Kritik der Aufstellungen Hegel’s über den Zweck und die Natur der höheren Analysis. Halle: Schmidt 1853.▲