Bibliographic Metadata
- TitleHeinrich Rickert an Vaihinger, Freiburg (Breisgau), 4.8.1900, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 l, Nr. 9
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 l, Nr. 9
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Heinrich Rickert an Vaihinger, Freiburg (Breisgau), 4.8.1900, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 3 l, Nr. 9
Freiburg i. Br.
4. August 1900.
Verehrter Herr Kollege!
Leider habe ich es am Beginn des Semesters versäumt, Ihnen den Empfang der kleinen Fichteschrift vom Jahre 1800[1] anzuzeigen und Ihnen für Ihre freundlichen Zeilen[2] zu danken. Ich möchte beides nun wenigstens am Semesterschluß nachholen.
Daß wir uns an Sigwarts Geburtstag[3] in Tübingen nicht getroffen haben, habe auch ich lebhaft bedauert. Ich wäre gerne hingefahren, aber es war mir aus verschiedenen Gründen unmöglich. Ihre Abhandlung in der[a] | Festschrift[4] habe ich mit lebhaftem Interesse gelesen, und zum Theil auch mit entschiedener Zustimmung. Aber doch auch nur zum Theil. Ich kann Paulsen nicht soviel zugeben, wie Sie es thun, und vor Allem: ich stehe zu dem Kantbuch Paulsens als Ganzem völlig anders. Ich vermisse gerade die „wohltuende Wärme“, ich vermisse die Ehrfurcht, die jeder von uns Epigonen diesem Riesen schuldig ist. Paulsens Buch scheint mir vom Standpunkt eines vorkantischen Metaphysikers geschrieben, der all seine Lieblingsmeinungen hier bedroht sieht, und sich nun bemüht, den großen Kritiker nach seinen Lieblingsmeinungen umzuformen. Ich habe den Eindruck, Kant ist Paulsen in tiefster Seele unsympathisch. Der Ton in dem Cohen geschrieben hat, ist mir sehr unangenehm, aber sachlich hat er fast durchweg recht. Ich habe die Artikel[5] erst | kürzlich gelesen, und[b] es war mir wie aus der Seele geschrieben, was dort auch über Äußerlichkeiten, wie z. B. das Titelbild gesagt wird. Lessing auf Kant herablächelnd! Welche Absurdität! Lessing hätte von Kant nur zu lernen gehabt. Und dann dieser Brief, der da abgedruckt ist, und die Moral der „kleinen Leute“. Nein, ich kann diesem Buch von Paulsen nicht viel gute Seiten abgewinnen. Für die Frommannschen[c] Klassiker hätte ein Mann über Kant schreiben müssen, der ein positives Verhältnis zu Kant hat, das Große in ihm sehen will, und der nicht herumnörgelt und krittelt. Doch verzeihen Sie diesen Erguß! Ich habe in diesem Sommer ein Kolleg über Fichte gelesen, und da klingt noch in mir die Überzeugung nach: auf jeder Seite, die Fichte geschrieben hat, ist mehr von dem, worauf Kants welthistorische Bedeutung beruht, als in dem Paulsenschen[d] Kantbuch. Ich freue mich, daß | ich Gelegenheit haben werde, in meinem „Fichte“[e] in der selben Sammlung[6] die Seite des Kantischen Denkens darzustellen, von der bei Paulsen nichts zu finden ist. Mir ist Polemik im Allgemeinen unsympathisch, und ich habe daher den von Ihnen freundlich angeregten Gedanken, in den Kantstudien etwas über diese Frage zu schreiben, aufgegeben[f]. Was ich zu sagen habe, will ich ohne jede Polemik in einer positiven Darstellung des großen Kantianers der Darstellung Kants von Paulsen entgegenstellen.
Zum Schluß möchte ich mir noch erlauben, auf eine Arbeit hinzuweisen, die kürzlich eine ehemalige Schülerin von mir über „Fichtes Socialismus“[g][7] veröffentlicht hat. Ich bin nicht mit Allem einverstanden, was in der Schrift steht, aber es scheint mir eine interessante Arbeit zu sein, und Frau Weber[h] hat vortrefflich gezeigt, in wie enger Beziehung die Philosophie des deutschen Idealismus zu den modernen Tagesfragen steht.
Mit ergebenstem Gruß Ihr
Heinrich Rickert.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
4↑Abhandlung in der Festschrift ] vgl. Vaihinger: Kant – ein Metaphysiker? In: Philosophische Abhandlungen. Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstage 28. März 1900 gewidmet. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1900, S. 135–158.7↑„Fichtes Socialismus“ ] vgl. Marianne Weber: Fichte’s Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx’schen Doktrin. Tübingen/Freiburg i. B./Leipzig: Mohr (Siebeck) 1900 (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der Badischen Hochschulen Bd. 4,3).▲