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- TitleVaihinger an Wilhelm Wundt, Halle, 21.4.1889, 4 S., hs. (eigenhändig mit eU), Universitätsbibliothek Leipzig, https://collections.uni-leipzig.de/item/UBLNachlassWundt_mods_00001133
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Vaihinger an Wilhelm Wundt, Halle, 21.4.1889, 4 S., hs. (eigenhändig mit eU), Universitätsbibliothek Leipzig, https://collections.uni-leipzig.de/item/UBLNachlassWundt_mods_00001133
Halle a/S. den 21. April 1889
Hochzuverehrender Herr Geheimer Regirungsrath und Professor![a]
Zwischen den Freunden Ihrer Psychologie und den Anhängern der Herbart’schen Pädagogik ist seit einiger Zeit über den Begriff der Apperception ein Streit ausgebrochen, in welchen auch mein Name hineingezogen worden ist. Die Weise, in welcher das mehrfach geschehen ist, könnte den Anschein erwecken, als ob ich mich selbst auf den Standpunkt der Herbartianer gestellt hätte, während ich ja doch im Gegentheil ganz auf dem | Boden der physiologischen Psychologie stehe und von da aus versucht habe, die Mißverständnisse, welche über Ausdruck und Sache der „Apperception“ entstanden sind, etwas zu heben. Es geschah dies bei Gelegenheit einer pädagogischen Versammlung, an welcher ich zufällig theilnahm. In dieser Versammlung griff der Herbartianer Cornelius[1] Ihre Theorie der Apperception an und die Versammlung war im Begriff diesem Redner ganz zuzustimmen. Da führte ich aus, daß, soweit dem ganzen Streite nicht bloße terminologische Mißverständnisse zu Grunde liegen, Ihre Theorie sachlich einen bedeutenden Fortschritt über die alte Anschauung enthalte, da Sie das Moment des Willens mit Recht dabei stärker betonten. Ich gestatte mir, den Bericht über diese meine Ausführungen[2] Ihnen zugleich durch Kreuzband[3] zu übersenden („Pädagog[ische] Studien“ S. 166–168). |
Was in demselben Referate über Staude’s Arbeit gesagt ist, ist nur eine unvollständige und ganz schiefe Wiedergabe meiner Ausführungen. Ich erkenne die Staude’sche Arbeit als eine sehr zweckdienliche und dankenswerthe Zusammenstellung der bisherigen Apperceptionstheorien an; ich glaube nur, daß derselbe in den historischen Partien seiner Arbeit nicht hinlänglich geschieden hat zwischen wirklichen sachlichen Differenzen der einzelnen Philosophen, und bloß abweichenden Verwendungen des Terminus „Apperception“ für ganz verschiedene psychologische Prozesse. Insbesondre scheint er mir nicht genügend unterschieden zu haben: 1) Apperception = Erhebung einer Vorstellung in den Blickpunkt des Bewußtseins; ich möchte dies die „formelle Aufnahme“ nennen; 2) Apperception = Verbindung jener nun | ins Bewußtsein aufgenommenen Vorstellung mit den übrigen Vorstellungen; man könnte dies die „materielle Aufnahme“ (oder „Aneignung“) nennen. Bei der Darstellung der[b] Herbart’schen Theorie scheint mir Staude diese beiden Seiten nicht scharf genug geschieden zu haben und dadurch ist in seine historische Darstellung etwas hineingekommen, was leicht dazu beitragen kann, den Streit noch mehr zu verwirren. Aber abgesehen davon ist seiner Arbeit alle Anerkennung zu zollen.
Indem ich mir zugleich erlaube, Ihnen zugleich eine kleine, kürzlich erschienene Schrift von mir[4] zu überreichen, welche auf dem Begriff einer „psychologischen Pädagogik“ (als Consequenz aus der „physiologischen Psychologie“) fußt, zeichne ich in alter Verehrung als Ihr ganz ergebenster
H. Vaihinger.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Herbartianer Cornelius ] Carl Sebastian Cornelius (1819–1896), seit 1880 Titularprofessor an der Universität Halle-Wittenberg (https://www.catalogus-professorum-halensis.de/corneliuscarlsebastian.html (20.8.2024)), bei Eisler (Philosophenlexikon 1912) als Anhänger Herbarts gebucht.2↑Bericht über diese meine Ausführungen ] vgl. Hugo Grosse: Zusammenkunft der „Zweigvereine für wissenschaftl. Pädagogik“ von Altenburg, Halle a. S., Jena und Leipzig. II. In: Pädagogische Studien NF 1888, S. 162–168: Wir ergänzen mit Nachstehendem unsern Bericht über die am 29. Okt. 1887 in Weißenfels abgehaltene Versammlung der gen. vier „Zweigvereine f. wiss. Päd.“, indem wir über den ersten Teil der Sitzung referieren. Nach einer kurzen Begrüßung der Versammlung durch den Vorsitzenden, Herrn Direktor Dr. Just-Altenburg, hielt, wie bereits bemerkt, Herr Universitäts-Professor Dr. Cornelius-Halle einen knappen und klaren Vortrag über „Apperzeption“ unter Bezugnahme auf eine von Wundt aufgestellte Ansicht, wie sie von Otto Staude in den von Wundt herausgegebenen „Philos. Studien, Bd. I.“ etwas näher dargelegt ist. Die Hauptpunkte des Vortrags bestehen in Folgendem. Die eben erwähnte Ansicht von Wundt weist auf eine spontane Thätigkeit hin, welche die Apperzeption besorgen soll. Diese Thätigkeit wird mit dem menschlichen Willen identifiziert, so daß die Apperzeption die Grundform einer jeden Äußerung des Willens ist, und zwar ist es im wesentlichen immer ein Wille, der sich in allen Formen der Apperzeption bethätigt. Dieser Wille bietet indeß, als ursprüngliche Eigenheit des Geistes gedacht, die nämlichen Unzulänglichkeiten und Ungereimtheiten dar, wie irgend eins der im Sinne der alten Vermögentheorie angenommenen Seelenvermögen. Hier wie dort bleibt das Kausalverhältnis zwischen dem Willen und den übrigen Seelenvermögen insbesondere zwischen dem Willen und den Vorstellungen völlig im Dunkeln. Der Wille erscheint nach dieser Ansicht als eine besondere, gewissermaßen über den Vorstellungen schwebende Kraft, die in das Getriebe der Vorstellungen eingreift, die eine oder andere erfaßt, um sie in den Blickpunkt des Bewußtseins zu heben. Andererseits erscheint derselbe Wille ungeachtet der ihm zugeschriebenen Spontaneität als durchaus träge. Derselbe ist an und für sich genommen ein Wille, der nichts bestimmtes, also eigentlich nichts will. Er bedarf der Erregung von Seiten der Vorstellungen. Die Apperzeption soll nämlich als eine Willenshandlung durch Motive bestimmt werden, welche in den Vorstellungen der Seele begründet sind. Nachdem eine Vorstellung, mag sie ein Anschauungs- oder Erinnerungsbild sein, perzipiert ist, gewinnt sie die Bedeutung eines Motivs, d. h. sie vermag durch die mit ihr verknüpften Gefühle einen Reiz auf den Willen auszuüben. Der Erfolg dieser Reizung des Willens durch die perzipierte Vorstellung ist die Apperzeption der Vorstellung, so daß die Apperzeption ihrem Wesen nach in einer Einwirkung des Willens auf die Vorstellung besteht. Durch den Einfluß des Willens wird die Vorstellung in den Blickpunkt des Bewußtseins erhoben, während umgekehrt, wie es heißt, jeder elementare Einfluß des Willens auf die Vorstellungen als eine Kraft erscheint, welche die Vorstellungen in den Blickpunkt des Bewußtseins zu heben strebt. Nach der eben charakterisierten Ansicht erfordert also die Reizung des Willens durch eine Vorstellung, daß diese sich bereits im Bewußtsein befindet, d. h., daß derselben bereits ein gewisser Klarheitsgrad und dem ihr etwa anhaftenden Gefühl eine bestimmte Intensität eignet. In diesem Falle ist aber zum Behuf der Apperzeption ein besonderer Willensakt nicht mehr erforderlich. Erheben sich mehrere Vorstellungen gleichzeitig über die Schwelle des Bewußtseins, so wird unter ihnen diejenige eine dominierende Stellung gewinnen, welcher die relativ höchste Klarheit zukommt oder welche mit dem relativ stärksten Gefühl verknüpft ist. Dieselbe erhebt sich dann ganz von selbst, d. h. vermöge ihrer eigenen Energie in den Blickpunkt des Bewußtseins, gar häufig auch gegen den Willen. Die betreffende Ansicht vermengt, wie der Vortragende bereits anderwärts hervorgehoben hat, in einer völlig unzulässigen Weise die Phänomene der unwillkürlichen, erzwungenen Aufmerksamkeit mit denen des willkürlichen Aufmerkens. Es giebt eine primäre, nicht selten mit Reflexbewegungen verknüpfte Aufmerksamkeit, die namentlich bei Kindern auffällig hervortritt, aber auch bei Erwachsenen noch gar oft wahrzunehmen ist. Diese Aufmerksamkeit ist völlig unabhängig von dem, was der Erwachsene auf Grund seiner inneren Wahrnehmung als Wille bezeichnet. Unwillkürlich ereignet sich auch meist die apperzipierende oder aneignende Aufmerksamkeit. In allen Fällen, wo eben ins Bewußtsein tretenden Eindrücken ältere gleichartige Vorstellungen entgegen kommen, findet eine apperzipierende Aufmerksamkeit statt, die ebenso wie die zuvor erwähnte primäre Aufmerksamkeit nicht allein unabhängig vom Willen, sondern auch gar oft gegen denselben sich geltend macht. In ihren niedrigsten Formen ist diese Aufmerksamkeit schon wahrnehmbar bei Kindern im ersten Lebensjahre, auch bei Tieren, so im Gebahren eines Jagdhundes, wenn er seinen Herrn Handlungen vornehmen sieht, welche auf die Jagd bezügliche Vorstellungen erwecken. Die Apperzeption und die damit zusammenhängende Aufmerksamkeit geschieht nicht allein gar häufig unabhängig vom Willen, sondern nicht selten auch ohne Bewußtsein der Wechselwirkung zwischen den apperzipierenden und apperzipierten Vorstellungen. Das Bewußtwerden dieser Wechselwirkung erfordert innere Wahrnehmung, d. h. eine Apperzeption durch die Vorstellungsgruppe, in welcher das eigene Ich seinen Sitz hat. Wir haben es hier mit einer höheren Apperzeptionsstufe zu thun. Eine Vorstellung kann sich im Bewußtsein befinden, d. h. einen gewissen Klarheitsgrad besitzen, ohne daß man sich derselben als der unsrigen bewußt ist. Um sich ihrer bewußt zu werden, muß sie selbst Objekt eines neuen Vorstellens werden, was niemals durch sie selbst, sondern allemal nur durch eine andere Vorstellung oder Vorstellungsgruppe geschehen kann, Das Bewußtwerden einer Vorstellung in dem hervorgehobenen Sinne beruht also auf einer Apperzeption der Vorstellung von Seiten der Vorstellungsgruppe des Ich und spricht sich in dem Urteil aus: Ich habe die Vorstellung. Nimmt man den Begriff der Apperzeption nach Art der älteren Psychologie in einem engeren Sinne, indem man die Apperzeption mit der inneren Wahrnehmung identifiziert und dem gemäß die erstere in dem Bewußtwerden irgend einer Vorstellung als der unserigen bestehen läßt, so hat man zu beachten, daß dieses Bewußtwerden mit dem Willen als solchem keineswegs unmittelbar zusammenhängt. Wie einer Vorstellung, so wird man sich auch irgend eines Willensaktes bewußt. Diese Apperzeption des Willens von Seiten des Ich läßt sich nicht ohne Weiteres als ein Werk des Willens selbst ansehen. […] Betrachtet man dagegen den Willen als eine ursprüngliche spontane Thätigkeit, die als ein und derselbe Wille in allen Formen der Apperzeption sich ausspricht, so kann es nicht ausbleiben, daß ein solches Vermögen häufig mit sich selbst in Widerstreit gerät, indem es Vieles und Verschiedenes, ja in manchen Fällen sogar dasselbe will und zugleich nicht will. Der Begriff einer solchen Thätigkeit ist widersinnig. Anders gestaltet sich die Sache, wenn man das Begehren und Wollen im Sinne der Herbartschen Psychologie als einen Zustand der Vorstellungen selbst betrachtet, in welchen dieselben unter bestimmten Umständen geraten. Es kann denn im Hinblick auf die Vielheit und Verschiedenheit der Vorstellungen resp. Vorstellungsgruppen nicht befremden, daß ein und derselbe Mensch ein mehrfaches und verschiedenes, beharrliches und vorübergehendes, besseres und schlechteres Wollen in sich trägt, daß der Mensch oftmals ungern will und oft in seinem Wollen mit sich selbst zerfallen ist. Herr Univ.-Professor Dr. Vaihinger-Halle bemerkte hierzu folgendes: Der Streit zwischen den Herbartianern und Wundt sei zunächst nur auf eine verschiedene Verwendung des Terminus „Apperzeption“ zurückzuführen und sei somit zunächst bloß ein terminologischer und formeller. Der Terminus „Apperzeption“, der von Leibniz in die Philosophie eingeführt worden, sei wegen der ihm im Laufe der Zeit gegebenen verschiedenen Bedeutungen einer der mißverständlichsten Termini geworden. Leibniz bezeichne, im Unterschied von der bloßen Empfindung als „Perzeption“, mit „Apperzeption“ die Aufnahme dieser Empfindung ins Selbstbewußtsein durch die spontane Thätigkeit des Ich. Kant setze „Apperzeption“ einfach identisch mit Selbstbewußtsein, Ich; dieses einheitliche spontane Ich (= „transscendentale Einheit der Apperzeption“) sei nach ihm mit ursprünglichen, apriorischen Funktionen (Raum, Zeit, Kategorien) ausgestattet, durch welche das empirische Material bearbeitet und umgeformt wird. Diese beiden Gebrauchsweisen des Ausdruckes vereinigt die Verwendung des Terminus bei Herbart in sofern in sich, als Apperzeption bei ihm eine Doppelfunktion bezeichnet: a) die Verknüpfung einer Vorstellung mit dem Selbstbewußstsein (= formelle Aneignung); b) den damit verbundenen Umformungsprozeß der neuen Vorstellung durch die älteren Vorstellungsgruppen (= materielle Aneignung). Die Herbartianer, bes. Steinthal und Lazarus, schieden erst diese beiden bei Herbart selbst noch nicht genügend getrennten Funktionen. Für die erstere wurde der Ausdruck „innere Wahrnehmung“ geläufig. „Apperzeption“ dagegen bedeutet ihnen nur jene zweite Funktion: d. h. die Aufnahme einer neuen Vorstellung in den schon vorhandenen Vorstellungskreis und die damit verbundene Reaktion dieses älteren Seeleninhalts auf die neue Anregung. Diese Reaktion besteht zumeist in einer assimilierenden Umformung, in einer chemischen Veränderung des Neuen durch das Alte, kann aber auch gelegentlich in einer Umgestaltung des Alten selbst durch das Neue bestehen. Bei diesen Prozessen kommt das Bewußtsein zunächst gar nicht in Frage, da dieselben sich vielfach auch unbewußt abspielen. Die ausschließliche Verwendung des Terminus Apperzeption für diese Prozesse hatte schon beinahe allgemeine Verwendung gefunden, als Wundt dem Terminus wiederum seine alte Leibnizsche Bedeutung wiedergab und zugleich den Ausdruck erweiterte, teilweise im Anschluß an die Herbartsche Verwendung desselben: 1. während ihm Perzeption Eintritt einer Vorstellung in das Blickfeld des Bewußtseins ist, ist ihm dagegen Apperzeption Erhebung einer Vorstellung in den Blickpunkt des Bewußtseins, und diese beruhe auf einer Thätigkeit des Willens; und damit seien nun 2. verschiedene Prozesse der Verbindung jener in den Blickpunkt eingetretenen Vorstellung mit den übrigen Vorstellungen verknüpft; Wundt bezeichnet diese Prozesse im Unterschied von den bloß „associativen“ als „apperzeptive“, und bei letzteren sei wiederum der Einfluß des Willens ausschlaggebend. Diese Wundtschen „apperzeptiven“ Prozesse decken sich nun sachlich teilweise mit jenen „Apperzeptionsprozessen“ der Herbartianer: nämlich eben mit den bewußten; die unbewußten „Apperzeptionsprozesse“ der Herbartianer dagegen behandle Wundt teils unter dem Namen der „assoziativen“ Verbindungen, teils lasse er sie bei Seite. – Bis hierher sei somit der Unterschied zwischen Wundt und den Herbartianern ein bloß terminologischer; es sei jedoch nicht zu verkennen, daß die Terminologie der Herbartianer in diesem Falle den Vorzug verdiene; es sei zweckmäßiger, den Prozeß der Aufnahme einer Vorstellung in den Mittelpunkt des Bewußtseins mit einem eigenen Terminus, etwa = „innere Wahrnehmung“ zu bezeichnen, und loszulösen von den etwa damit verknüpften Verbindungsprozessen jener Vorstellung mit den älteren Vorstellungen, weil diese Verbindungen eine von der Aufnahme ins Bewußtsein als solcher sehr wohl zu unterscheidende besondere Gattung von seelischen Vorgängen darstellen, nicht notwendig mit dem Bewußtsein verknüpft seien, und sich im Gegenteil vielfach ohne Bewußtsein vollziehen; der Ausdruck „Apperzeption“ für diese Verbindungsprozesse, ganz abgesehen davon, ob sie sich mit oder ohne Bewußtsein vollziehen, sei ein ganz geeigneter. Sei somit die Differenz bis hierher eine bloße terminologische, so werde dieselbe allerdings zu einer sachlichen durch die Aufstellung Wundts, bei jenen bewußten „apperzeptiven“ Verbindungen der Vorstellungen spiele der spontane Wille eine entscheidende Rolle, während nach den Herbartianern jene Verbindungen durch die Kraft der Vorstellungen selbst als solcher sich vollziehen. Diese Differenz sei nun allerdings eine sehr tief gehende und betreffe die letzten prinzipiellen Fragen der Psychologie. Hierzu sei in der Kürze nur zu bemerken, daß zwar Wundt den „Willen“ vielleicht zu sehr verselbständige, daß aber Wundt insofern ganz mit der neueren wissenschaftlichen Psychologie in Deutschland und England sich in Übereinstimmung befinde, als man die Vorstellungen nicht mehr wie Herbart als die alleinigen Elemente des Seelenlebens betrachte; man sehe vielmehr die Triebe und Gefühle als gleich ursprünglich an, und sei der Ansicht, daß es eben sowenig Trieb- oder Willensprozesse, sowie Gefühle gebe, ohne Vorstellungen, als Vorstellungsprozesse ohne begleitende Trieb- oder Willenserscheinungen und Gefühle. Es sei somit dies nicht zurückzuweisen, daß bei den Apperzeptionsprozessen (im Herbartschen Sinne), so wohl bei den bewußten als bei den unbewußten der „Wille“ oder „Trieb“ eine bedeutsame Rolle spiele; die Lehre vom „Interesse“, sowie die Lehre von der Aufmerksamkeit, auch der sog. unwillkürlichen, werde dadurch sehr nahe berührt. Dieser sachliche Unterschied sei jedoch, wenn er auch theoretisch tief gehe, doch praktisch nicht so groß, als es den Anschein habe; denn auch bei den Herbartianern vollziehen sich ja die Apperzeptionsprozesse immer unter dem Einfluß früherer Vorstellungen, welche sich zu Triebkräften und Willenselementen umgebildet haben, wie eben die Lehre vom Interesse zeige. Für diese Lehre, wie für viele andere Punkte sei die Wundtsche Psychologie von großem Werte; es sei zu hoffen, daß die Pädagogik auch aus dieser psychologischen Richtung noch vielen Gewinn ziehen werde, und das Studium der Wundtschen „Physiologischen Psychologie“ sei daher jedem Pädagogen anzuraten. Berichterstatter machte auf die Bedeutung des Gehörten für die Pädagogik aufmerksam, da einzelne Gegner der Herbart-Zillerschen Didaktik aus dem Wundtschen Apperzeptionsbegriff die Notwendigkeit einer Berichtigung unserer Theorie des Lernprozesses, der sog. formalen Stufen, folgern wollen. Sie behaupten z. B., „daß die Apperzeptions-Theorie Herbarts erwiesenermaßen an verschiedenen gar nicht leicht wiegenden Mängeln“ leide und daß namentlich die „Vorbereitung“ durch eine „andere Begründung des Apperzeptionsprozesses im Sinne Wundts a. A. gewinnen“ würde. Sie verweisen dabei u. a. auf die von Prof. Vaihinger (der sich selbst nicht zu den Herbartianern rechnet) soeben scharf abgefertigte Arbeit von Otto Staude („die Arbeit sei ein glänzendes Produkt der Verwirrung“, wurde gesagt). Folgt Anmerkung: Einem dieser Gegner – Rißmann i. d. „Schles. Schulzeitung“ 1887, Nr. 26 – ist dabei das Mißgeschick geschehen, daß er Dr. Richard Staude in Eisenach (Herausgeber der „Präparationen etc.“) mit Dr. Otto Staude (jetzt Professor in Dorpat) verwechselt hat, wenn er sagt: „Seitdem (1883) ist freilich Staude zum Vollblut-Herbartianer bekehrt worden.“ Wundts Zeitschrift führt übrigens den Titel „Philosophische Studien“ (nicht „physiologische“ St.); der Band mit O. Staudes Arbeit erschien nicht 1883, sondern 1882. Letzteres trifft nicht zu, vgl. Otto Staude: Der Begriff der Apperzeption in der neueren Psychologie. In: Philosophische Studien Bd. 1. Hg. v. W. Wundt. Leipzig: Engelmann 1883, S. 149–212.4↑Schrift von mir ] vgl. Vaihinger: Naturforschung und Schule. Eine Zurückweisung der Angriffe Preyers auf das Gymnasium vom Standpunkte der Entwicklungslehre. Ein Vortrag in der dritten allgemeinen Sitzung der 61. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Köln am 22. September 1888 gehalten. Köln/Leipzig: Albert Ahn 1889. Vaihinger zitiert dort auf S. 33 Richard Staude: Die kulturhistorischen Stufen im Unterricht der Volksschule. In: Pädagogische Studien NF 1880 und 1881 und spricht von psychologischer Pädagogik (S. 2 und passim).▲