Bibliographic Metadata
- TitleCarl du Prel an Vaihinger, Silz (Tirol), 20.7.1888, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 6 p, Nr. 11
- Creator
- Recipient
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 6 p, Nr. 11
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Carl du Prel an Vaihinger, Silz (Tirol), 20.7.1888, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 6 p, Nr. 11
Silz
Oberinnthal
Tirol
20.VII.88.
Verehrter Freund! Besten Dank für Ihre freundlichen Notizen[1]. Um es aber nur gleich zu sagen, rentirt sich Ihre Freundlichkeit schlecht, indem ich nun erst recht sie in Anspruch nehmen muß. Ich habe nämlich über das „verschollene Buch“ von Kant in die[a] „Allgem[eine] Zeitung[b]“ geschrieben[2], worauf ein Dr Stölzle in Würzburg – wer ist der Mann? hochtrabend mich zurechtweist[3], das Buch sei nur mir unbekannt. Davon abgesehen nun, daß ich in der That noch Niemanden gefunden (außer Ihnen), der das Buch gekannt hätte – Prof. Carrière und Dr Raphael von Koeber[c] kennen es auch nicht – ist Stölzle’s Hinweis auf die (auch von Ihnen angeführten) Aufsätze von B. Erdmann[d] ganz unlogisch; denn Erdmann spricht ja auch von einer „unbeachtet gebliebenen Quelle“. Meiner ferneren Behauptung, die Vorlesungen Kant’s stammen nicht etwa aus der Periode der Greisenhaftigkeit, sondern (nach Pölitz) aus 1788–1790; setzt Stölzle abermals Erdmann’s Nachweis entgegen, daß sie aus 1774 stammen. Aber dann sind sie ja erst recht nicht greisenhaft! Die „Allg[emeine] Zeitung[e]“ wird hoffentlich meine Duplik[4] bringen. Ich habe nun aber in das Wespennest gestochen und habe mich entschlossen, Kant’s Vorlesungen – oder wenigstens den Abschnitt: Psychologie – neu herauszugeben[5] u. mit einem längeren Essay „Kant als Mystiker“ zu verbinden. Diese | Arbeit kann ich Ihnen wohl erst im November senden. Nun muß ich dazu doch [B.] Erdmann’s 2 Artikel lesen und da ich mich wieder auf Sie angewiesen sehe, möchte ich Sie bitten, sie mir zu senden. Ich setze voraus, daß Sie dieselben eigenthümlich haben, und würde sie recommandirt zurücksenden, natürlich auch nur ein paar Tage behalten. Sie schreiben, daß Sie schon vor Erdmann darauf aufmerksam gemacht (Comment[ar] I, 22). Auf was? Auf den Irrtum von Pölitz[f] bezügl[ich] der Jahreszahl 1788 oder nur im Allgemeinen auf das Buch von Pölitz? Ist 1788 das Vorlesungsjahr nicht[g], so ist meine Ansicht ein Irrthum, daß Kant sich in seiner Mystik gesteigert hat; aber interessant bleibt es doch, daß er 1774 also mit 50 Jahren in dem Abschnitt „Psychologie“ der Vorlesungen in nuce eine ganze Mystik darstellt.
Sie schreiben ferner, daß Kant wahrscheinlich auch nach 1781, also nach der Kr[itik] d[er] r[einen] V[ernunft], an den Vorlesungen wenig geändert hat. Läßt sich’s beweisen, und daß er sie überhaupt nach 1781 noch hielt? Vielleicht gibt Erdmann darüber Aufschluß und ist 1774 nur | das Abfassungsjahr. Hielt er sie noch nach 1781 so wird man kaum behaupten dürfen, er habe sie gegen seine eigene Überzeugung gehalten. Mit den „zwei Seelen“[6] ist es allerdings richtig.
Mit besten Grüßen Ihr
du Prel
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Ihre freundlichen Notizen ] nicht überliefert, vermutlich in Bezug auf die Frage du Prels über Kants Verwarnung vom 8.7.1888.3↑mich zurechtweist ] vgl. Remigius Stölzle: (Berichtigung). In: Beilage zur Allgemeinen Zeitung München, Nr. 198 vom 18.7.1888, S. 2909 (https://digipress.digitale-sammlungen.de/view/bsb00085514_00321_u001/13): Würzburg, 16. Juli. (Berichtigung.) In der Beilage zur Nr. 194 der „Allg. Ztg.“ vom 14. Juli berichtet Hr. Dr. Carl du Prel von einem verschollenen Buche von Kant. Das in Frage stehende Buch „Kants Vorlesungen über die Metaphysik, herausgegeben von Poelitz 1821“ sei gänzlich in Vergessenheit gerathen; die verschiedenen Gesammtausgaben der Werke Kants enthalten diese Vorlesungen nicht, in der neueren Kant-Literatur werden sie ebenfalls nicht erwähnt, sogar Fachphilosophen hätten ihm keinen Aufschluß darüber geben können, nur von Hrn. Prof. Vaihinger in Halle habe er solchen erhalten, welchen, sagt aber Hr. du Prel nicht. Unter diesen Umständen glaubt er annehmen zu dürfen, das Buch sei so gut wie unbekannt, er könne daher den meisten Lesern etwas Neues mittheilen. Gegenüber dieser Entdeckung möchten wir folgendes bemerken: Die Vorlesungen Kants über die Metaphysik sind von Hrn. Prof. Benno Erdmann im Jahre 1883 zum Gegenstand einer Abhandlung gemacht worden. In der Zeitschrift „Philosophische Monatshefte“ hat dieser Gelehrte p. 129–144 darüber gehandelt unter dem Titel: „Eine unbeachtet gebliebene Quelle zur Entwicklungsgeschichte Kants.“ Er gibt hier nähere Notizen über die von Poelitz zugrunde gelegten Nachschriften und hat insbesondere ein Königsberger Manuscript genau verglichen, berichtigt (p. 130) die irrigen Angaben von Poelitz über die Zeit, in der diese Vorlesungen gehalten wurden, und kommt aus inneren Gründen zu dem Schlusse, daß sie den siebziger Jahren (nicht vor 1773/74 und kaum viel später) zuzuweisen seien, während du Prel mit Poelitz 1788 oder 1789 (vielleicht auch noch 1790) annimmt. Auf Grund einer eingehenden Analyse des Werkes und Vergleichung der darin enthaltenen Lehren mit früheren und späteren Anschauungen Kants hat Erdmann in derselben Zeitschrift, 1884, p. 65–97 „Mittheilungen über Kants metaphysischen Standpunkt in der Zeit um 1774“ veröffentlicht. Von einem verschollenen Buche Kants kann also nicht die Rede sein. Ebenso ist das Buch in der neueren Kant-Literatur nicht unbekannt. Schon ein Blick in den wohlbekannten Grundriß der Geschichte der Philosophie von Ueberweg-Heinze, 7. Aufl., 1888, p. 228 und 222, hätte Hrn. du Prel vor diesem Irrthum bewahren können und ihm vielleicht den ganzen Artikel in Nr. 194 erspart. Das Buch ist für Hrn. du Prel neu, nicht aber für die meisten seiner Leser. Dr. Stölzle.4↑meine Duplik ] vgl. du Prel: (Das verschollene Buch von Kant). In: Beilage zur Allgemeinen Zeitung München, Nr. 202 vom 22.7.1888, S. 2972 (https://digipress.digitale-sammlungen.de/view/bsb00085514_00401_u001/12): Sils, 19. Juli. (Das verschollene Buch von Kant.) Daß ich Kants „Vorlesungen über Metaphysik“ ein verschollenes Buch genannt habe, wird von Hrn. Dr. Stölzle beanstandet. Er verweist mich auf die „Philosophischen Monatshefte“, worin Prof. Erdmann von dem Buche spricht. Das ist richtig; aber eben Prof. Erdmann gibt dort seinem Aufsatz den Titel – Hr. Dr. Stölzle führt ihn selber an – „Eine unbeachtet gebliebene Quelle zur Entwicklungsgeschichte Kants.“ Eine sonderbare Berichtigung! Verschollen oder meinethalben unbeachtet geblieben ist also das Buch jedenfalls und kann so lange als solches bezeichnet werden, bis es in die Gesammtausgabe aufgenommen werden wird, sollte auch unter den Fachgelehrten die Tradition davon sich fortpflanzen. Indem sodann Hr. Dr. Stölzle den Accent vom philosophischen Hauptpunkt meines Aufsatzes auf einen philologischen Nebenpunkt verlegt, stellt er der Annahme von Pölitz – der ich gefolgt bin – daß die Vorlesungen 1788–1790 gehalten worden seien, wiederum Prof. Erdmanns Meinung entgegen, der sie ins Jahr 1774 verlegt. Sollte Prof. Erdmann im Recht sein – was ich von meiner Sommerfrische aus nicht untersuchen kann – so ist ja das abermals nur Wasser auf meine Mühle: ich wollte nämlich Kants „Vorlesungen“ gegen den Vorwurf der Greisenhaftigkeit schützen, und das offenbar nur um so mehr, wenn Kant damals nicht 64jährig, sondern fünfzigjährig war. Ich muß wiederum sagen: Eine sonderbare Berichtigung! Die meisten Leser werden an Kant-Mikrologien keinen Geschmack finden und es gern den Fachgelehrten überlassen, über die Abfassungszeit der „Vorlesungen“ Hypothesen aufzustellen oder das Wort verschollen auf die Goldwaage zu legen. Viel interessanter dagegen ist der Hauptpunkt meines Aufsatzes, und dieser liegt in der schwerwiegenden Thatsache, daß Kant – gleichviel in welchem Jahre – ein System aufgestellt hat, welches identisch ist mit demjenigen, das heute inductiv aus den Thatsachen der Mystik (Mesmerismus; Somnambulismus, Hypnotismus) sich ergibt. Diese Thatsache konnte nur darum so lange verborgen bleiben, weil die Mystiker Kants „Vorlesungen“ nicht kennen, die Kant-Spezialisten dagegen in der Mystik nicht orientiert sind. Sollte aber Hr. Dr. Stölzle eine Ausnahme bilden, so wäre es für unsre gemeinschaftlichen Leser interessanter gewesen, seine Meinung zu vernehmen über die unläugbare und vollständige Uebereinstimmung der Kant’schen „Vorlesungen“ mit dem mystischen System. Auf diesen Standpunkt meines Aufsatzes, den philosophischen, geht aber Hr. Dr. Stölzle gar nicht ein. Mit diesem mystischen System nun haben sich sogar mehrere Philosophieprofessoren beschäftigt – Ulrici, Fichte, Hoffmann, Perty; – aber keiner von diesen beruft sich auf Kants Vorlesungen, was sie doch sicherlich gethan hätten, wenn ihnen das Buch von Pölitz bekannt gewesen wäre. Für diejenigen philosophischen Schriftsteller, die, durch die Gewalt der Thatsachen gezwungen, geneigt sein möchten, mystische Concessionen in ihre Schriften einfließen zu lassen, geht übrigens aus unsrer Streitfrage eine gute Lehre hervor: sie müssen vorweg jeder Hoffnung auf Anerkennung entsagen; denn es liegt die geradezu unglaubliche Thatsache vor, daß mystischen Gedanken die Aufnahme in die Gesammtwerke eines Philosophen selbst dann verweigert wird, wenn dieser Philosoph Kant heißt. Da sich nun aber nicht erwarten läßt, daß diejenigen, denen der mystische Kant unbequem ist, ihn aus seiner Verborgenheit ziehen werden, so werde ich Kants „Vorlesungen“ selber neu herausgeben, entweder ganz, oder wenigstens den längsten und originellsten Abschnitt derselben, die Psychologie, und werde bei dieser Gelegenheit Kants Verhältniß zur Mystik eingehend besprechen. Die Leser werden sich alsdann ihr eigenes Urtheil bilden können, und werden ersehen, daß die Uebereinstimmung der Kant’schen „Vorlesungen“ mit allen Hauptpunkten der heutigen Mystik in der That unläugbar und vollständig ist.6↑„zwei Seelen“ ] geflügeltes Wort nach Goethe, Faust I, Vers 1112: Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust […]. Hier vermutlich in Bezug auf eine briefliche Äußerung Vaihingers über Kant (ähnlich derjenigen von Vaihinger an Bartholomäus von Carneri vom 15.1.1884).▲