Bibliographic Metadata
- TitleHermann Siebeck an Vaihinger, Gießen, 18.1.1885, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 6 a
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 6 a
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Hermann Siebeck an Vaihinger, Gießen, 18.1.1885, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXIII, 6 a
Giessen d. 18.1.85.
Verehrter Herr College,
Verzeihen Sie, daß ich Ihre freundlichen Neujahrswünsche[1] so spät erwidere. Sie haben aber vielleicht auch schon wahrgenommen, daß gerade zu Anfang des Jahres die Wochen schneller und unvermerkter verfließen, als sonst. Nach allem was ich von Ihnen weiß, scheinen Sie in Halle eine sehr befriedigende Thätigkeit gefunden zu haben, worüber ich mich von Herzen freue. Ich kann für hiesige Verhältnisse, wenigstens, was die Hauptcollegien betrifft, auch recht[a] zufrieden sein, da ich für diese immer unser größtes Auditorium bemühe. Die daneben hergehenden Sachen sind freilich immer noch ziemlich schwach besucht, es fehlt für die feineren Themen | den Leuten z[um] Th[eil] an Zeit, umsomehr aber macht für dergleichen der Mangel jeder Tradition; es muß das Interesse dafür mit einiger Geduld erst herangepflegt werden, und ich habe Grund zu glauben, daß mir das gelingen wird. Habe ich doch diesmal die Kantlectüre als Privatcolleg zu Stande gebracht und es giebt schon Leute, die freiwillig selbstständig Arbeiten machen. In dieser Beziehung also fühle ich mich hier befriedigt. Die Stadt selbst hat weniger meine Sympathie; ich bin doch zu lange an größeren Plätzen gewesen. Doch entbehre ich letztere im Winter mehr als im Sommer, wo die Natur und die zahlreichen Bahnverbindungen manchem berechtigten Erholungsbedürfnis sehr hübsch entgegenkommen.
In den Herbstferien war ich mit der ganzen Familie zuerst im Jura, nicht so weit von Basel, und nachher in B[asel] selbst, wo es, wie Sie denken können, uns allen wieder sehr gefiel, und wo ich auch arbeiten konnte. Volkelt habe ich dabei erst näher | kennengelernt, jedoch mit ihm mehr gekegelt als philosophirt. Gegenwärtig habe ich zur Erholung von anderem eine alte Platostudie angenommen, die nun bald fertig[2] sein wird. Daneben habe ich die interessante aber nüchterne Aufgabe, nach den Spuren und Keimen der neueren Psychologie in der Scholastik zu suchen, wobei übrigens mehr herauskommt als ich dachte. Die Leute können Einen übrigens mit ihrem ewigen distinguendum etc. etc. manchmal zur Verzweiflung bringen: ein Körnchen Gold in Bergen von Sand! Nachher will ich daneben, um nicht im Staub zu verkommen, ein systematisches Thema aufnehmen, die Religionsphilosophie[3], die ich diesmal nur ein paar Leuten einstweilen als Colleg lese.
Im vorigen Oktober haben wir schweres Leid erfahren. Unser jüngstes Kindchen starb uns ganz plötzlich und unerwartet im Alter von einem Jahr an einer Gehirnentzündung. Wie hart so etwas ist, merkt man immer erst recht, wenn man es selbst erleben muß. Unsere drei andern Kinder, bei denen | Sie noch im besten Andenken stehen, sind Gott sei dank recht gesund und vergnügt. Meine Frau fängt langsam an, sich von dem Schlage zu erholen. Sie empfiehlt sich Ihnen herzlich und bittet (wie auch ich) bei Gelegenheit in unserem Hause wieder zuzusprechen.[b] Unsere jetzige Wohnung ist sehr angenehm, aber fast die einzige Miethswohnung, die man in dieser uns sehr erwünschten Weise (unter Ausschluß alles Miethscasernenmäßigen) hier finden kann.
In alter Gesinnung mit besten Grüßen und nachträglichen Neujahrswünschen Ihr ergebener
H. Siebeck.
Daß Gottschick[4] einen Ruf nach Heidelberg ablehnte, wird Ihnen bekannt sein. Es sind hier überhaupt jetzt etwas stabilere Verhältnisse: man ist in Gießen jetzt öfter in der Lage, nach auswärts abzulehnen, statt wie früher, um jeden Preis fortzugehen. Auch kommen jetzt neue Habilitationen; neue Kliniken sollen gebaut werden. Die Sache macht sich.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑alte Platostudie … fertig ] nicht ermittelt; erst 1895 erschien von Siebeck: Platon als Kritiker aristotelischer Ansichten. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 107 (1895), S. 162–176.3↑Religionsphilosophie ] vgl. die spätere Veröffentlichung von Siebeck: Lehrbuch der Religionsphilosophie. Freiburg i. Br.: Mohr (Siebeck) 1893.▲