Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Friedrich Zarncke, Straßburg, 18.4.1883, 4 S., hs., Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Zarncke, NL 249/1/V/32
- Creator
- Recipient
- Participants
- Place and Date of Creation
- Series
- Physical LocationUniversitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Zarncke, NL 249/1/V/32
- URN
- Social MediaShare
- Archive
- ▼
Vaihinger an Friedrich Zarncke, Straßburg, 18.4.1883, 4 S., hs., Universitätsbibliothek Leipzig, Nachlass Zarncke, NL 249/1/V/32
Straßburg 18.IV.83.
Hochzuverehrender Herr Professor![a]
Nochmals erlaube ich mir Sie ebenso ergebenst als dringendst zu ersuchen, das Princip der Anonymität[1] nicht zu durchbrechen. Nach nochmaliger reiflicher Erwägung und genommener Rücksprache mit meinen Freunden muß ich wiederholt darauf hinweisen, daß eine ersprießliche, objective und ungeschminkte Recensionsthätigkeit nur (wenigstens in meinem Falle) bei Beibehaltung der Anonymität möglich ist. Wohin soll das führen, wenn jeder Autor, dem eine scharfe Recension | unbequem ist, durch eine einfache Provocation dem Recensenten, dem der Redacteur eine Recension anvertraut hat, und welche jener unter der Voraussetzung der Anonymität geschrieben hat, zur Namensnennung zwingen könnte! Ich blättere meine früheren Recensionen durch und finde mit Erstaunen, daß da eine ganze Menge von Autoren dasselbe[b] Verlangen stellen könnte, bei[c] denen ich z. B. Ausdrücke wie „abstrus“, „Formelkram“, mangelnden „Muth der Selbständigkeit“, „saloppen Stil“, „stilistische Verlotterung“, „Niveau eines Primaneraufsatzes“ u. s. w. gebraucht habe. Ich bitte Sie, verehrtester Herr Professor, zu diesem Zwecke etwa anzusehen die Recension von Caspari (1881 No 31[2] und 1882 No 37[3]), von Ludewig (1882 No 29[4]) | von Heman (1882 No 38[5]) von Sommer (1883 No 5[6]), von Grapengießer (1883 No 1[7]) von Rehberg (1883 No 1[8]), von Reichenau (1881 No 45[9] gegen das Preisgericht starke Vorwürfe), von Hellenbach (1882 No 1[10]) oder gar vollends von Pfleiderer (1881 No 44).[11]
Wenn sich der Recensent der Gefahr ausgesetzt sieht, auf einfache Anfragen wegen solcher scharfen Recensionen seinen Namen der häßlichen Vendetta einzelner einflußreicher Personen und mächtiger Coterien aussetzen zu müssen, so ist es mit der objectiven Recensionsthätigkeit vorbei: dann hieße es Glacé Handschuhe anziehen, und das ist unter der Würde eines ernsthaften Gelehrten.
Gerade die philosophische Literatur generirt eine solche Menge theils dilettantischer, theils ganz schiefer Schriften, daß eine scharfe Sprache noth thut. Ich mag | im Eifer für die Heiligkeit der Sache hie und da zu scharf gewesen sein, aber es ist mir immer nur um die Sache zu thun gewesen, der ich durch viele meiner Recensionen auch einige Dienste erwiesen zu haben glaube. Saft- und kraftlose Recensionen machen nicht den geringsten Eindruck. Gerade durch die Namensnennung werden Recensionen persönlich, welche dagegen[d] der Namenlose vom Standpunkt eines unparteiischen Richters aus, unabhängig von persönlichen Rücksichten schreiben konnte. Ich habe mir durch meine Kantarbeiten aber in weiteren Kreisen die Anerkennung einer unparteiischen, allseitig gerechten Abwägung der Literaturerzeugnisse erworben. Z. B. habe ich dem von der wissenschaftlichen Philosophie so hart angegriffenen Kuno Fischer, den ich selbst auch auf das allerschärfste angegriffen habe, auch Gerechtigkeit widerfahren lassen[12], was von dieser Seite sonst Niemand gethan hat.
Sollten Sie, verehrtester Herr Professor trotzdem eine Namensnennung nothwendig finden, so bitte ich nochmals um vorherige gütige Benachrichtigung: die Sache kommt ja ohnedies noch nicht in die nächste Nummer und hat, da sie ohnedies einige Wochen alt ist, keine Eile.
In herzlicher Verehrung Ihr ganz ergebenster
H Vaihinger.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
2↑1881 No 31 ] vgl. Vaihinger (ungezeichnet): Caspari, Dr. O., Prof., das Erkenntnißproblem. Mit Rücksicht auf die gegenwärtig herrschenden Schulen. Breslau, 1881. Trewendt. (VII, 51 S. gr. 8) M. 1,60. In: Literarisches Centralblatt, Nr. 31 vom 30.7.1881, Sp. 1049–1050.3↑1882 No 37 ] in der angegebenen Nr. ist keine Rezension über ein Werk von Caspari erschienen. An Vaihinger kann eine Rezension über Caspari in Nr. 45 zugeschrieben werden, vgl. Vaihinger an Zarncke vom 17.4.1883.4↑1882 No 29 ] vgl. Vaihinger, gezeichnet α.: Ludewig, J., Geist und Stoff. Erörterungen u. Betrachtungen über die Souveränetät [!] der Materie. Iserlohn, 1881. Bädecker (VIII, 244 S. Lex.-8.) M 5. In: Literarisches Centralblatt, Nr. 29 vom 15.7.1882, Sp. 955.5↑1882 No 38 ] vgl. Vaihinger, gezeichnet α.: Heman, C. F., die Erscheinung der Dinge in der Wahrnehmung. Eine analytische Untersuchung. Leipzig, 1881. Hinrichs. (VI, 170 S. Gr. Lex.-8.) M 3. In: Literarisches Centralblatt, Nr. 38 vom 16.9.1882, Sp. 1286.6↑1883 No 5 ] vgl. Vaihinger (ungezeichnet): Sommer, Hugo, Amtsrichter, die Neugestaltung unserer Weltansicht durch die Erkenntniß des Raumes u. der Zeit. Reine allgemeinfaßliche Darstellung. Berlin, 1882. G. Reimer. (VIII, 186 S., Gr. 8.) M 3. In: Literarisches Centralblatt, Nr. 5 vom 27.1.1883, Sp. 149–150.8↑1883 No 1 ] vgl. Vaihinger (ungezeichnet): Rehberg, Herm., die Principien der monistischen Naturreligion. Moderne Anschauungen über Religionsreformen. Jena, 1882. Dabis. (VII, 104 S. Gr. 8.) M 1,60. In: Literarisches Centralblatt, Nr. 1 vom 1.1.1883, Sp. 8.9↑1881 No 45 ] vgl. Vaihinger (ungezeichnet): Reichenau, Wilh. von, die monistische Philosophie von Spinoza bis auf unsere Tage. Gekrönte Preisschrift. Cöln, 1881. Mayer. (XX, 348 S. gr. 8.) M. 7. In: Literarisches Centralblatt, Nr. 45 vom 5.11.1881, Sp. 1530–1531.10↑1882 No 1 ] vgl. Vaihinger (ungezeichnet): Hellenbach, L. B., Aus dem Tagebuche eines Philosophen. Wien, 1881. Rosner. (VII, 312 S. 8.) M 5. In: Literarisches Centralblatt, Nr. 1 vom 1.1.1882, Sp. 5–6.11↑(1881 No 44) ] vgl. Vaihinger (ungezeichnet): Pfleiderer, Dr. Edm., Prof., Kantischer Kriticismus und englische Philosophie. Eine Beleuchtung des deutsch-englischen Neu-Empirismus der Gegenwart als Beitrag zum Centenarium der Kritik der reinen Vernunft. Halle a/S., 1881. Pfeffer. (VI, 148 S. gr. 8.) M. 2,50. In: Literarisches Centralblatt, Nr. 44 vom 29.10.1881, Sp. 1497–1498.12↑Gerechtigkeit widerfahren lassen ] vgl. z. B. Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft Bd. 1, 1881, S. 387–388 u. 400–404.▲