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- TitleBartholomäus von Carneri an Vaihinger, Schloss Wildhaus (Zellnitz an der Drau/Selnica ob Dravi, ehemals Untersteiermark), 7.1.1883, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 d, Nr. 8
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 d, Nr. 8
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Bartholomäus von Carneri an Vaihinger, Schloss Wildhaus (Zellnitz an der Drau/Selnica ob Dravi, ehemals Untersteiermark), 7.1.1883, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 d, Nr. 8
Wildhaus 7. Jänner 1883.
Hochgeehrter Herr!
Hoffentlich haben Sie meine Antwort[1] auf Ihren lieben Vorletzten längst erhalten. Sie hat mit Ihrem Letzten[2] sich gekreuzt, der mir die freundlichsten Glückwünsche zum Jahreswechsel übermittelt, für die ich nicht genug danken kann. Bleiben Sie mir immer so gut! Im Zweifel über meinen Aufenthalt können Sie immer eben so gut nach Wildhaus wie nach Wien (Abgeordnetenhaus) adressiren; bin ich nicht da, so weiß man dort wie hier immer, wo ich bin, und es geht höchstens Ein Tag verloren. Den Jahreswechsel bringe ich sonst immer hier zu; doch diesmal kam ich erst vorgestern hierher, über die Weihnachtsferien bis in das 4. Dieses als Mitglied eines Wahlcomité’s in Gratz angenagelt. Dies zu meiner Entschuldigung, wieder mit der Antwort gezögert zu haben. Am 13. bin ich wieder in Wien und bleibe voraussichtlich bis zu den Osterfeiertagen dort. |
Mir ist es vollkommen klar, wie[a] wichtig es für Sie ist, falls Sie im Herbst nach Gratz kommen, schon im Beginn des Jahres es zu wissen. Auch glaube ich, daß es nicht schwer sein wird, dies dem Unterrichtsminister begreiflich zu machen, und werde ich gewiß, wie ich wieder in Wien bin, das Meinige thun, um dies zu erreichen. Das Fatale dabei ist nur, daß ich nicht nur persönlich in keinen Verkehr mit ihm treten, sondern auch nicht wünschen kann, daß er von meinem Interesse für Sie Kenntniß erlange. Ich habe ihn das letzte Mal gar zu arg mitgenommen, und in ihm verkörpert sich auch in der Tat die schlimmste Calamität, die unserm gesammten Unterrichtswesen widerfahren konnte. Seine ganze Tatkraft reibt sich auf in dem schrittweisen Zurückweichen von den Tschechischen Prätentionen[3] und er hat rein keinen Sinn mehr für etwas Besseres.
Aber, wie gesagt, ich habe Hoffnung, eine einflußreiche Persönlichkeit für Sie zu gewinnen, und Sie können überzeugt sein, daß ich Ihre Angelegenheit nicht aus den Augen lassen und nichts, | das sie fördern könnte, unversucht lassen werde. Ihre Staatsbürgerschaft ist kein wesentlicher Erschwerungsgrund und fällt diesmal schon darum nicht in’s Gewicht, weil die zwei neben Ihnen von der Gratzer Universität Vorgeschlagenen, wie ich jetzt in Gratz hörte, Volkelt u. Avenarius[b], auch keine Österreicher sind. Wie ich etwas von einigem Belang weiß, schreibe ich wieder.
Und wie gern thue ich es! Der Gewinnende, falls Sie nach Steiermark kommen und zwischen uns ein persönlicher Verkehr sich entwickelt, werde wohl nur ich sein. Meiner Gelehrsamkeit fehlt’s an allen Ecken und Enden. Haben meine Schriften einen Werth, so liegt er nur darin, daß mein ganzes Streben darauf sich beschränkt, mit dem erfahrungsmäßigen Wissen auszulangen. Bekomme ich ein paar Separatabdrücke meiner Besprechung Albrecht Rau’s[4] im Dezemberheft des Kosmos, so sende ich sie Ihnen. Jedenfalls erhalten Sie seinerzeit meinen Aufsatz Staat und Sittlichkeit[5], der im Januarheft erscheint. Für mich ist der Staat der Organismus, in welchem die Menschheit gerade | so zum Sittlichkeitsbegriff gelangt, wie in einem Körper mit centralorganisirtem Nervensystem das Bewußtsein zur Erscheinung kommt. Die von Haus aus nicht bewußte Empfindung halte ich für physiologisch erklärbar, oder beschreibbar. Die neueste Philosophie wird nächstens dem trefflichen Verstande alles Wissen streitig machen; aber nur weil sie das absolute Wissen allein als Wissen gelten läßt. Ich habe aber weder eine Sehnsucht nach, noch überhaupt einen Sinn für absolutes Wissen. Das Absolute ist Sache des Glaubens, und diese hat mit der Philosophie, die nur von dem handeln darf, das für den Menschen da ist, nichts gemein. Es macht mich glücklich, daß meine Bewußtseinstheorie Ihnen zusagt. Empfehlen Sie mich bestens Prof. Schmidt u. Prof. Goltz und bleiben Sie immer so gut Ihrem ganz ergebenen
B. Carneri
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
3↑Tschechischen Prätentionen ] mit den böhmisch-tschechischen Ländern ließ sich in der Kaiserlich-königlichen Doppelmonarchie letztlich keine Einigung erzielen. Die tschechische Seite hatte u. a. mit der gesetzlichen Teilung der Prager Universität vom 28.2.1882 einen einschneidenden Erfolg erzielt, vgl. Reichsgesetzblatt für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder. VIII. Stück. Ausgegeben und versendet am 3. März 1882 (https://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=rgb&datum=1882&page=61 (6.8.2024)). – Carneri und der Unterrichtsminister waren politische Gegner, wie sich aus den stenographischen Protokollen der Debatten im Abgeordnetenhaus ablesen lässt; vgl. Carneri an Vaihinger vom 20.4.1883.5↑Staat und Sittlichkeit ] vgl. Carneri: Staat und Sittlichkeit. In: Kosmos 6 (1882/1883), 12. Bd. Oktober 1882–März 1883, S. 241–255 (eigene Datierung: Wildhaus, 16. Oktober 1882, Heft ausgegeben am 25.1.1883).▲