Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Eduard Zeller, Straßburg, 13.11.1882, 8 S., hs., Universitätsbibliothek Tübingen, http://idb.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/Md747-782
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Vaihinger an Eduard Zeller, Straßburg, 13.11.1882, 8 S., hs., Universitätsbibliothek Tübingen, http://idb.ub.uni-tuebingen.de/opendigi/Md747-782
Straßburg i E den 13. Nov[ember] 1882
Hochzuverehrender Herr Geheimerath, verehrtester Herr Professor![a]
Das mir von Ew. Hochwohlgeboren mehrfach bewiesene gütige Wohlwollen und theilnehmende Interesse an meiner wissenschaftlichen Arbeit und meinem persönlichen Schicksal flößt mir den Muth ein, Sie wiederum zu belästigen und mich aufs Neue mit einer Bitte an Sie zu wenden.
Dem Vernehmen nach besteht die Absicht, daß durch Herrn Professor Thieles Berufung nach Königsberg[1] erledigte Extraordinariat der Philosophie | in Halle baldig wiederum zu besetzen. Ich wende mich daher vertrauensvoll an Ew. Hochwohlgeboren, meine Bewerbung um diese Stellung mit Ihrer vielvermögenden Fürsprache bei den Mitgliedern der Hallenser Facultät und an entscheidender höherer Stelle gütigst zu unterstützen. Indem ich mir die Freiheit nehme, Ihnen diese Bitte vorzutragen, ersuche ich zugleich um die Erlaubniß, Ihnen einiges über meine Verhältnisse mitzutheilen, womit ich meine Bitte motiviren zu können glaube.
Meine hiesigen Aussichten auf ein Extraordinariat[2] sind unterdessen nicht besser geworden. Wegen des sonstigen hohen Ausgabebudgets des Landes, wegen der enormen Verluste der Tabakmanufacturen[3], wegen der | exceptionell großen Gehälter für zur Disposition gestellte Beamte befürchtet die Regierung mit Recht die härtesten Eingriffe des elsaß-lothringischen Landesausschusses; es ist daher „der strikte Befehl von oben“ ergangen, überall aufs möglichste zu sparen. Daher wird diese Anweisung nach Kräften befolgt, so daß auf Mittel für ein Extraordinariat nicht zu hoffen ist, zumal ja auch zwei energische und thätige Ordinarien hier wirken. Der gute Wille der Facultät scheitert an der Finanzlage des Landes.
In den Ferien wurde mir auf der Philologen-Versammlung in Karlsruhe[4] (durch Vermittlung des das luxemburgische Unterrichtswesen leitenden Professor Studemund[5]) | durch zwei Mitglieder der belgischen Universität Gent daselbst eine philosophische Professur angeboten mit sehr vortheilhaften pecuniären Bedingungen. Ich hätte jedoch meine Kantarbeit aufgeben müssen; ich hätte mich ganz in neue Verhältnisse und Studien werfen müssen; ich hätte alle meine Zeit auf sprachliche, stilistische und rhetorische Ausbildung im Französischen, was Vortragssprache gewesen wäre, verwenden müssen. Ich glaubte jedoch diese (jetzt durch einen jungen Luxemburger Namens Hoffmann[6] besetzte) Stelle ausschlagen zu müssen[b], weil ich es nicht mit meiner wissenschaftlichen Ehre vereinbar hielt, meine Arbeit im | Stiche zu lassen und nur einer rascheren und glänzenden Versorgung willen meine Sache aufzugeben. Ich dachte, es würde mir in Deutschland eine wenn auch bescheidene Stellung geboten werden, an die ich im Contact mit der deutschen Wissenschaft meinem Werke leben könnte. Da sich nun jetzt diese Gelegenheit darzubieten scheint, fasse ich einige Hoffnung, unter[c] Berücksichtigung meiner Lage für das gedachte Extraordinariat in Frage kommen zu können. Ich würde dasselbe einer selbständigeren Stellung und glänzenderen Verhältnissen vorziehen, weil es mir die Möglichkeit bieten würde, mein Werk ungestört fortzusetzen. Ich würde es mehr mit dem mir vor allem theueren Interesse an der Weiterführung meines Commentars vereinbar finden, als selbst die im übrigen aussichtslose | Stellung in Graz[7], wo man auch an mich gedacht zu haben scheint[8], wie ich einer Notiz des Schwäbischen Merkurs[9] entnehme und wie mir Herr Professor Laas mittheilte. Nachdem aber Herr Dr. von Meinong[10] einmal von der Regierung ernannt worden ist, dürfte es lange dauern, bis vielleicht nach langem Drängen die Regierung noch einen weiteren Philosophen annimmt; noch ist ja selbst die neben Zimmermann[11] erledigte, ordentliche Lehrkanzel nicht wieder besetzt, nach dem Brentano[12] durch seine Heirat, die nach oesterr[eichischen] Gesetzen ungültig sein soll, dieselbe verlassen hat.
Mit Ende des Semesters mich auch am Ende meiner Ressourcen sehend gebe ich mich immer noch der Hoffnung hin, daß die Änderungen in | Preußen eine Position generieren[d] und mich vor der traurigen Nothwendigkeit gerettet zu sehen, die academische Laufbahn d.°h. mich selbst aufzugeben.
Bei der Unsicherheit meiner jetzigen Lage muß ich auch zunächst davon absehen, einen Studienaufenthalt in Berlin zu erstreben.
Entschuldigen Sie, hochzuverehrender Herr Geheimerat, daß ich es wage, in so ausgekehrter und übermäßiger Weise Sie zu belästigen, Ihre Zeit in Anspruch zu nehmen und um Ihren Beistand zu bitten. Nur das unbegrenzte Vertrauen auf Ihr Wohlwollen und Ihre Güte vermochte mich, abermals mich an Sie zu wenden, und Ihrer Theilnahme, die Sie mir zu beweisen die Gewogenheit hatten, | mich aufs Neue angelegentlich zu empfehlen.
An dem II. Bande meines Commentars[13] habe ich schon viel gearbeitet; die Hälfte ist etwa schon druckfertig; aber die schwankende Unsicherheit meiner Lage nimmt mir die Möglichkeit einer systematischen Arbeitsmethode und praktischen Eintheilung der Zeit und Kraft.
Genehmigen Sie, hochzuverehrender Herr Geheimerath, den Ausdruck inniger Dankbarkeit und aufrichtiger Verehrung, mit dem ich zeichne als Ew. Hochwohlgeboren ganz ergebenster
H. Vaihinger.
Kommentar zum Textbefund
d↑eine Position generieren ] eine Position zu generieren; zu nach Korrektur mittels Radierung zweier Wörter stehen gebliebenKommentar der Herausgeber
1↑Thieles Berufung nach Königsberg ] Günther Thiele (1841–1910), 1869 in Halle promoviert, 1875 dort für mathematische Physik und Philosophie habilitiert, 1881 ao. Prof., 1882 in Königsberg, 1885 dort o. Prof. für Philosophie (BEdPh).3↑Verluste der Tabakmanufacturen ] die Kaiserliche Tabakmanufaktur Straßburg wies als Staatsbetrieb um 1882/1883 Millionenverluste aus, vgl. z. B. Europäischer Geschichtskalender 23 (1882). Hg. v. H. Schulthess. Nördlingen: C. H. Beck 1883, S. 248.4↑Philologen-Versammlung in Karlsruhe ] vom 27.–30. September 1882, vgl. Festschrift zur XXXVI. Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner zu Karlsruhe in den Tagen vom 27.–30. September 1882. Karlsruhe: G. Braun 1882.5↑luxemburgische Unterrichtswesen leitenden Professor Studemund ] vgl. Leopold Cohn: Wilhelm Studemund, geb. 3. Juli 1843, gest. 8. August 1889. In: Biographisches Jahrbuch für Alterthumskunde 13 (1890). Hg. v. Iwan von Müller. Berlin: S. Calvary 1891, S. 82–103, hier 93: Die Thätigkeit des Vorsitzenden der wissenschaftlichen Prüfungs-Commission führte Studemund früh dazu, sich eingehend mit dem höheren Unterrichtswesen zu beschäftigen. Die tiefe Einsicht, welche er bald in allen Teilen desselben gewann, befähigte ihn in hohem Maße, an der Unterrichtsverwaltung teilzunehmen. Das Prüfungs-Reglement für die Schulamtscandidaten in Elsaß-Lothringen vom 28. Oktober 1872 ist unter seiner Mitarbeit entstanden, und ihm gebührt ein erheblicher Teil an dem Verdienste, daß eine Anzahl deutscher Regierungen ein Übereinkommen traf über die gegenseitige Anerkennung der von den wissenschaftlichen Prüfungs-Commissionen ausgestellten Zeugnisse. Die Luxemburgische und die Belgische Regierung zogen ihn bei der Reorganisation ihres höheren Schulwesens zu Rate. Jahrelang war er mit den Vorarbeiten für die Reorganisation des Luxemburgischen Unterrichtswesens beschäftigt; die 1880 zu Stande gekommene Regelung des Verhältnisses zwischen der deutschen und der französischen Sprache in Luxemburg ist ihm zu verdanken. Zu Studemund vgl. auch Vaihinger an Zeller vom 10.6.1882.6↑Luxemburger Namens Hoffmann ] d. i. Peter Hoffmann (1851–1918), vgl. https://www.ugentmemorie.be/personen/hoffmann-peter-1851-1918 (1.2.2023).9↑Notiz des Schwäbischen Merkurs ] vgl. die Notiz unter der Spitzmarke § in: Schwäbischer Merkur, Nr. 259 vom 2.11.1882, S. 4: Aus Steiermark 29. Okt. Soviel wir hören, ist Dr. v. Meinong, welchen das Ministerium als außerordentlichen Prof. der Philosophie zu Graz ernannt hat, nicht zum Nachfolger des in diesen Tagen nach Freiburg i. B. übersiedelnden ordentlichen Prof. der Philosophie, Alois Riehl, bestellt, sondern es sollte vielmehr das seit dem gewaltsamen Tode Prof. Kaulichs erledigte Extraordinariat auf diese Weise besezt [!] werden. Es ist somit für das durch Riehls Abgang offene Ordinariat der Philosophie ein zweiter Professor seitens der Grazer Fakultät in Vorschlag zu bringen. Wenn wir recht berichtet sind, so ist in dieser Beziehung nicht am wenigsten von Ihrem Landsmanne, Privatdozent Dr. H. Vaihinger in Straßburg, die Rede (https://digital.wlb-stuttgart.de/index.php?id=6&tx_dlf[id]=75641&tx_dlf[page]=4 (6.8.2024)).10↑von Meinong ] Alexius von Meinong (1853–1920), 1878 in Wien habilitiert, 1882 ao. Prof. in Graz, 1889 o. Prof. dortselbst (BEdPh).11↑Zimmermann ] Robert von Zimmermann (1824–1898), seit 1861 o. Prof. der Philosophie an der Universität Wien, 1874 zum Hofrat ernannt, 1886/1887 Rektor (https://geschichte.univie.ac.at/de/personen/robert-von-zimmermann-o-univ-prof-dr-phil (6.8.2024); BEdPh).12↑Brentano ] 1884 hatte Franz Brentano (1838–1917) sein Ordinariat aufgeben müssen, da er, obwohl Priester, aus Protest gegen das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma aus der katholischen Kirche ausgetreten war und geheiratet hatte, worauf er die österreichische Staatsbürgerschaft verlor. Brentano lehrte weiter als Privatdozent, gab seine Privatdozentur jedoch 1895 auf, da er sein Ordinariat nicht wiedererlangen konnte (BEdPh).▲