Bibliographic Metadata
- TitleMoriz Carrière an Vaihinger, München, 15.12.1877, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 e, Nr. 1
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 e, Nr. 1
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Moriz Carrière an Vaihinger, München, 15.12.1877, 4 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 4 e, Nr. 1
Verehrter Herr College!
Sie sprachen mir von einem Aufsatz über Spencer[1]; hätten Sie von zweien geredet so würde ich sofort bemerkt haben daß das aus dem Rahmen unseres Programmes heraustritt, wie ich es im ersten Heft[2] entworfen habe: abwechselnd sollen anknüpfend an neue Bücher Probleme erörtert und den Gebildeten klar gemacht, abwechselnd damit Richtungen und Persönlichkeiten der neueren Philosophie geschildert werden.[a] Wir haben damit begonnen, und wenn auch noch tüchtige Kräfte in Deutschland nicht charakterisirt sind, mag immerhin ein Engländer oder Franzose dazwischen auftreten, aber in einem Artikel; für einen zweiten[b] könnten Sie irgendeine Frage an Spencer anknüpfen und beantworten[c], nicht aber uns lange Auszüge aus seinem Naturalismus bieten. Sehe ich dann ihre Arbeit durch, so muß sich für[d] um Umgestaltung bitten. Sie geben eine Einleitung über die deutsche Philosophie seit Kant, weisen dieselbe als Träumerei aus dem Tempel der Wissenschaft, und sind so gnädig ihr eine Anerkennung von Seiten der künftigen Culturgeschichte zu versprechen. Haben Sie denn nie Hegels Kunst- und Rechtslehre[e], | nie seine Philosophie der Geschichte und Geschichte der Philosophie[f] studirt? Sind denn nicht dort eine Fülle wahr bleibende Wahrheiten gefunden, und ist nicht hier der Grund gelegt für die Anschauung der Volksorganismen und der organischen Entwicklung des Gedankens?[g] Man wird weiterbauen, modificiren, aber den Grund bewahren! Mit gebrochnen Gliedern liegen die Luftschiffer am Boden? Die Grimmigkeit[h] und Denkfaulheit sollen wir gutheißen, die sich vom Idealismus abwendet?[3] Wenn die Masse sich seit 30 Jahren um die Philosophen wenig kümmerte, so wollen wir ihr sagen daß sie das zu eignem Schaden thut, wollen sie hinweisen wie in unsrer Wissenschaft auf allen Gebieten fortgearbeitet wurde.[i] Ich muß Sie also bitten diese Einleitung zu streichen.[j] Dann finde ich die Darlegung dessen was Spencer Philosophie nennt, S. 4. gut; ebenso das über den unerforschlichen Weltgrund; geben Sie dies, fügen Sie etwas kürzer an was er über[k] | Raum, Zeit, Bewegung sagt, und nehmen Sie aus dem zweiten Artikel hinzu wie er die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse von Erhaltung der Kraft, der Bewegung etc. systematisirt, und lassen Sie einen kurzen Überblick folgen wie er[l] daraus seinen die ethische Welt verschlingenden Naturalismus folgert, so haben wir einen brauchbaren Aufsatz, – wenn Sie Kritik daran wünschen[m]. Sie Selber schreiben mir daß Sie vielfach mit dem Engländer nicht übereinstimmen; allein Sie lassen ihn seinen phantastischen Redeschwall unwidersprochen ergießen und all das wegschwemmen[n], was ich mit Huber[4] seither aufgebaut! Das müßte die Leser verwirren statt sie aufzuklären! Es ist ja nicht wahr daß Gedanken nur verblasste Empfindungen, somit diese nur Ortsbewegungen sind; es ist nicht wahr daß Schwingungen sich in Gefühle umsetzen; jene sind etwas Objectives, und bleiben in der Objectivität, im leiblichen Organismus, diese sind ein Innerliches, Lebensacte einer Subjectivität![o]
Wollten Sie diese Kritik nicht geben, so würden wir bitten die Darstellung der drei erwähnten Punkte auf 5 Druckseiten zusammenzufassen, und uns ein Nachwort[5] zu überlassen für | die sechste Seite.
Als wir die Revue übernahmen geschah es aus Pflicht, in dem Gedanken: gutta cavat lapidem saepe cadendo[6]: wenn wir allmonatlich den Gebildeten sagen: Es gibt eine andre Philosophie als Materialismus, Mystizismus, Nihilismus[p]; wenn wir wie Kant[q] das Ethische betonen, wie Kant[r] die wichtigen Ergebnisse der Naturwissenschaft aufnehmen u. zeigen wie sie die Freiheit des Geistes[s] nicht ausschließen, wie sie eine reale Basis für die Verwirklichung des Guten bleiben[t][u], so kann das allmählich eine Wirkung thun. Denn wir Aelteren sehen die furchtbare Gefahr für unser Volk, wenn es dort von den Pfaffen des Syllabus[7] aus der Kirche hinausgepredigt oder verdammt[v] wird, und wenn es hier von den Schaffern des Atheismus[w] hört daß die Ideale Illusionen sind[x] und nur das Sinnliche wirklich ist. Der verschämte Materialismus[y], der sich neumodisch Monismus[z] nennt, ist aber in seinem Gift als der unverschämte der Kraftstoffelrei[aa][8]. Wenn zwischen der „alten u. jungen Schule“, wie Sie’s nannten, der Kampf nicht entbrennen soll, so muß die letztere die sittliche Weltordnung anerkennen, – ich meine natürlich nicht mein Buch[9], sondern die Sache![ab][ac]
Nehmen Sie dies offne Wort als das was es ist: ein nothwendiges Bekenntniß in der Lebensfrage unsrer[ad] Gegenwart. Sie können Ihre beiden Artikel wie sie sind unsretwegen im Kosmos (Ausland)[10][ae], oder sonstwo veröffentlichen, wenn Sie uns daraus das oben angedeutete Gewünschte herstellen. So wie sie vorliegen sind sie ein Widerspruch mit dem Programm und der Tendenz des von unsern Namen vertretnen Berichtes: Wir bitten aber und wünschen dringend[af] daß Sie einen Aufsatz so herstellen wie wir ihn verwerthen können. Der baldgefälligen Zusendung desselben entgegensehend hochachtungsvoll Ihr ergebenster
M Càrriere
München 15/12 1877[ag]
Kommentar zum Textbefund
c↑Sie … beantworten ] mit Bleistift unterstrichen, zusätzlich am linken Rd. mit Bleistift angestrichene↑Kunst- und Rechtslehre ] mit Bleistift unterstrichen, zusätzlich am linken Rd. mit Bleistift angestrichenp↑Materialismus, Mystizismus, Nihilismus ] mit Tinte unterstrichen (blau, der übrige Text des Schreibens in Schwarz)Kommentar der Herausgeber
1↑Aufsatz über Spencer ] vgl. die schließlich gedruckte Fassung: Vaihinger: Der englische Realismus, H. Spencer. In: Deutsche Revue über das gesammte nationale Leben der Gegenwart 2 (1878), Bd. 2, S. 177–182 (= Philosophie und Aesthetik. Bericht: Herausgegeben von M. Carriere und I. Huber in München, https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11378058-1 (1.8.2024)). Außerdem erschien: Vaihinger: Der Begriff des Absoluten (mit Rücksicht auf Spencer). In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 2 (1878), S. 188–221 (https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k94129s/f193.item (1.8.2024)).2↑im ersten Heft ] vgl. Carrières Bericht über Philosophie in: Deutsche Revue über das gesammte nationale Leben der Gegenwart 1 (1877), S. 28–30 (https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11360656-7 (1.8.2024)).4↑mit Huber ] Johann Nepomuk Huber (1830–1879), seit 1861 o. Prof. der Philosophie an der Universität München (BEdPh).6↑gutta cavat lapidem saepe cadendo ] der Tropfen höhlt den Stein durch oftmaliges Fallen, lat. Sprichwort nach griechischem Vorbild (Büchmann, Geflügelte Worte).7↑Pfaffen des Syllabus ] d. h. katholischen Priestern als Exekutoren des Syllabus von Papst Pius IX. (Sammlung der vom Papst in verschiedenen Äußerungen geächteten Irrtümer), veröffentlicht am 8.12.1864 (http://www.domus-ecclesiae.de/magisterium/syllabus-errorum.teutonice.html (1.8.2024)).8↑Kraftstoffelrei ] Anspielung auf Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. In allgemein-verständlicher Darstellung. Frankfurt a. M.: Meidinger 1855; 21 Auflagen bis 1904.10↑(Ausland) ] Zeitschriftentitel, in denen Vaihinger veröffentlicht hat: Kosmos. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung auf Grund der Entwicklungslehre; Das Ausland.▲