Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Eduard von Hartmann, Straßburg, 30.10.1876, 8 S., hs., Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Eduard von Hartmann
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- Physical LocationWürttembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Eduard von Hartmann
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Vaihinger an Eduard von Hartmann, Straßburg, 30.10.1876, 8 S., hs., Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Nachlass Eduard von Hartmann
Straßburg, i/E[a] Kornmarkt 20 III[1]
den 30/October 1876
Verehrtester Herr Doctor!
Ich war in den letzten Wochen so viel auswärts u. auf Reisen, und so stark durch meinen Umzug[2] in Anspruch genommen, daß Sie mit diesem Umstand, der meine ganze Correspondenz außer Rand und Band brachte, mein langes Schweigen entschuldigen müssen. Immer schwebte es mir als eine angenehme Pflicht vor, Ihre freundlichen Zeilen[3] aus Bad Driburg zu beantworten. Ich bin nun hieher übergesiedelt und hoffe auf einige Jahre wieder in Ruhe zu leben. Es ist daher eine meiner ersten Handlungen hier, mir zu erlauben, Ihnen meine neue Adresse[b] ergebenst mitzutheilen, mit der Bitte, mich unter ihr mit freundlichen Zusendungen recht oft | beehren zu wollen. Ich habe in den ersten Tagen hier nichts zu thun, als meine unterbrochenen Correspondenzen, die sich über ganz Deutschland erstrecken, überall mit der ergebensten Entschuldigung wieder anzuknüpfen, daß Reisen und Umzug mich außer Stand sahen, die Correspondenz ordentlich zu führen.
Zunächst sage ich Ihnen meinen ergebensten Dank für die äußerst gütige Mittheilung über die Entgegnungen, welche Sie im Schilde führen. Leider bin ich auch in Bezug auf Zeitungen so außer allen Contacten mit den laufenden Nummern gerathen, daß ich nicht weiß, ob die angekündigten Artikel in der „Wiener Abendpost“ und in der „Gegenwart“ erschienen sind. Was die letztere betrifft, so kann ich nachsehen, die erstere wird hier nirgends gehalten und wäre ich Ihnen für die Mittheilung etwaiger Nummern von Herzen dankbar, die ich Ihnen baldigst retourniren wollte. Es schmeichelt mir außerordentlich und verpflichtet mich zu Dank, daß Sie meiner Schrift so viele Aufmerksamkeit schenken wollen. Wie ich absehe, wird sie[c] viel gelesen und übt eine | gewisse Wirksamkeit aus, weshalb von Ihrem Standpunkt aus eine „Abwehr“ vielleicht nicht ungerechtfertigt ist. Wenn Sie die Güte haben wollen, die versprochenen Sendungen an Correcturbogen der auf meine Schrift bezüglichen Partien Ihres polemischen Werkes gütigst zu effectuiren, so wäre ich Ihnen zu hohem Dank verbunden. Ich bin sehr gespannt auf Ihre neue Schrift, welche sicherlich eines der Standardworks[d] der polemischen Literatur werden wird. Ganz speciell bin ich natürlich auf diejenigen Partien gespannt, welche sich mit Lange und mir beschäftigen werden, und wenn ich auch nicht glaube, daß Sie mich „aus einer Sackgasse herausführen“ müssen, so bin ich doch fest überzeugt, daß Ihre Entgegnung ein wichtiges Ferment in meiner neuen Gedankenbildung sein wird. Es kann Ihnen wohl kein Geheimnis geblieben sein – es ist manchmal zwischen den Zeilen zu lesen – daß mir während der Ausarbeitung der | Schrift andre Gedanken gekommen sind, und daß ich mir eigentlich, um einen spöttischen Ausdruck zu gebrauchen, Lange und damit auch Kant „vom Leibe geschrieben“ habe. Ich habe, um einen Ausdruck meines Kritikers (Caspari[4]) zu gebrauchen, mich mit Absicht unter Lange’s Standpunkt in meiner Kritik gestellt, statt über ihn. Meine neue Gedankenbildung war noch nicht so compakt, nicht so sicher, um schon als Ausgangspunkt meiner Kritik benützt werden zu können. Ich habe absichtlich die Darstellung und Kritik outrirt[e] und meiner Feder[f] die Zügel straff gehalten, und meine eigene Weltanschauung nicht so durchblicken lassen, wie ich es hätte können, was aber keinen Wert gehabt hätte. Es hatte sich schon seit langem eine, wie ich glaube, mannigfach | originelle Weltanschauung zu bilden begonnen, sowohl in theoretischer als in praktischer Beziehung, eine Weltanschauung, welche die Kantsche Larve abwirft und sich nicht durch sceptische Einwürfe beengen läßt. Daß ja der Lange’sche Standpunkt unhaltbar ist, habe ich mehrfach angedeutet, aber ich konnte nichts weiter thun als andeuten.
Ich bin Ihnen schon jetzt dankbar für die vielfache Anregungen, welche Ihre Schriften mir zur Ausbildung einer eigenen Anschauung gegeben haben, und noch dankbarer werde ich Ihnen sein für jeden künftigen Wink in dieser Hinsicht, der dienen kann, einen solchen Bildungsprozeß zu erleichtern. Ihr oben angeführter Ausdruck von der „Sackgasse“ ist darum doch zutreffend, wobei ich freilich die Bemerkung mache, daß | diejenige Weltanschauung, welche sich mir als die richtige darstellen will, sich[g] durch eine einfache Wendung aus dem Lange’schen Standpunkt ergibt; eine Wendung, die Lange selbst im Begriffe war, zu machen. Ich wiederhole, daß ich Ihnen außerordentlich dankbar sein werde für jeden Wink, und daß mir nichts angenehmer und ehrenvoller sein kann, als aus einer solchen Feder Ermunterung, Anerkennung, und selbst Tadel entgegenzunehmen. Die neue Anschauung, welche ich meine, ist aber eine solche, daß sie fast mit denselben Worten ausdrückbar ist, wie die Lange’sche, nur muß man, möchte ich sagen, „den Werth um eine Stelle verrücken“. Ich will also damit nicht meine Schrift zurückgenommen | haben, sondern im Gegenteil sagen, […][h] ich sie fortsetzen werde. Es scheint mir eben, daß man Lange gewöhnlich nicht ganz verstanden hat wie er es meinte, woran er freilich meistenteils selbst schuldig ist. Man soll neuen Wein nicht in alte Schläuche gießen.
Gestatten Sie noch die Bemerkung, daß ich glaube, daß Ihre „Axiologie“[5] mir lebensfähiger erscheint als meine „Metamoral“; sie wird wahrscheinlich im Kampf ums Dasein sich erhalten als Gegenstück zur „Ontologie“; aber als gegen Gegenstück zu Metaphysik glaube ich, bleibt auch einmal „Metamoral“ vielleicht am Leben. Vielleicht wäre „Timologie“[6] zu bilden.
Noch die Mittheilung, daß ich vielleicht Anfang nächsten Jahres den Straßburgern den „Pessimismus“ | vorführen werde, wobei ich natürlich Ihr System eingehend vortragen würde, nemlich[i] in einem öffentlichen Vortrag[7], zu lehren[j] hoffe ich nächstes Semester. Ich schreibe gegenwärtig an einer Monographie (über eine specielle Art von Hypothesen) zum Zwecke der Habilitation. Ich danke Ihnen bestens für Ihre diesbezüglichen Glückwünsche und bedaure nur zu hören von Ihnen aus Ihrem Briefe, daß Sie sich nicht in gewöhnlichem Maße erholt hätten.
Ihre Ethik scheinen Sie allmälig[k] und bruchstückweise vorzuführen, hauptsächlich in der Dichterhalle. „Lorm[l] contra Carrière[m]“[8] ist possirlich, da hat sich der Optimismus einmal wieder blamirt.
Ich empfehle mich Ihnen &[n] Ihrer Frau Gemahlin, deren Zorn auf mich hoffentlich verraucht ist, aufs angelegentlichste und zeichne mit vollendeter Hochachtung Ihr ergebenster
Dr. H. Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Kornmarkt 20 III ] Vaihingers Straßburger Adressen lauteten SS 1877–WS 1877/1878 Alter Kornmarkt 20; SS 1878 Ruprechtsauer Allee 36; WS 1878/1879–WS 1883/1884 Storchengasse 1 (Amtliches Verzeichniss des Personals und der Studenten der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg).4↑Caspari ] vgl. die Rezension über Vaihinger: Hartmann, Dühring und Lange (1876) von Otto Caspari in: Das Ausland, Nr. 44 vom 30.10.1876 (https://digipress.digitale-sammlungen.de/view/bsb11329370_00347_u001/1), S. 866–871.6↑„Timologie“ ] nach gr. τιμή (Wertschätzung). Neologismus, hier besonders früher Nachweis. Früheste Buchung bei Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Historisch-quellenmässig bearbeitet. 3. Bd. 3. Aufl. Berlin: Mittler und Sohn 1910, S. 1511 für August Döring: Philosophische Güterlehre. Untersuchungen über die Möglichkeit der Glückseligkeit und die wahre Triebfeder des sittlichen Handelns. Berlin: R. Gaertner (Hermann Heyfelder) 1888, S. 28–29: Zum Schluß dieses Abschnittes noch eine terminologische Bemerkung. Es ist im allgemeinen wünschenswert, den Gebrauch formelhafter technischer Ausdrücke, die schon als Fremdwörter die Sprache zu einem Jargon entstellen und das Verständnis erschweren, außerdem aber, besonders bei massenhaftem Gebrauche, durch die beständige Nötigung des Lesers, sich auf die genaue Bedeutung zu besinnen, außerordentlich ermüdend wirken, nach Möglichkeit zu beschränken. Es giebt jedoch Fälle, wo selbst die Neubildung eines Terminus durch das Bedürfnis scharfer Absonderung des Begriffs oder auch bequemerer sprachlicher Handhabung desselben Entschuldigung finden muß. In diesem Sinne ist für das auf die Lehre von den Werten, die Güterlehre Bezügliche durch v. Hartmann das Adjektivum axiologisch und für das ganze Lehrgebiet der Ausdruck Axiologie in Umlauf gesetzt worden. Letztere Bildung ist entbehrlich, da hierfür das Wort Güterlehre ausreicht; dagegen ist ein Adjektivum des bequemeren Ausdrucks wegen oft wünschenswert. Nur bezeichnet der dem Worte axiologisch zu Grunde liegende Wortstamm nicht Wert und Werturteil im mittleren, neutralen Sinne, sondern Würdigkeit und Würdigung, also entweder im relativen Sinne innere Berechtigung zu etwas, oder im absoluten Sinne positiven Wert und positives Werturteil überhaupt. Ich möchte daher für diese Bedeutungssphäre lieber das Adjektivum timologisch in Gebrauch nehmen, dem diese schiefe und einseitige Grundbedeutung nicht anhaftet, und werde daher zuweilen in dem hier entwickelten Sinne von timologischem Dogmatismus, Skepticismus und Kriticismus, von timologischer Beziehung, timologischen Standpunkten u. dgl. reden. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie wird Axiologie nicht korrekt nachgewiesen, Nachweis für das synonym genannte Timologie fehlt (Lemma Wertphilosophie, Bd. 12, 2004).8↑„Lorm contra Carrière“ ] vgl. die Rezension von Carrière: Die sittliche Weltordnung (1877) von Heinrich Landesmann (Hieronymus Lorm) in: Deutsche Dichterhalle 7 (1878), S. 7–12. Dazu S. 83–85 u. 99–101 eine Replik Carrières mit abschließender Stellungnahme von Landesmann (S. 135–137 u. 159–164).▲