Bibliographic Metadata
- TitleRichard Avenarius an Vaihinger, Leipzig, 9.6.1876, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 m, Nr. 2
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 m, Nr. 2
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Richard Avenarius an Vaihinger, Leipzig, 9.6.1876, 3 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 m, Nr. 2
Leipzig. 9. Juni 1876.
Blücherstr. 10. III.
Sehr geehrter Herr Doctor!
Besten Dank für Brief[1] u. den Tristan-Text[2], den ich freilich von der Zeit her[a], als ich die Oper in München hören wollte, noch besaß. Für Ihre gute Absicht aber noch meinen besonderen schönen Dank!
Ich freue mich herzlich, daß Sie ein blinder Schreck zu meinem Vetter[3] geführt hat – möge Sie Ihr guter Genius auch ferner durch Ihr philosophisches Junggesellenleben leiten!!
Besten Dank endlich noch, daß Sie meine Lässigkeit im Schreiben so freundlich entschuldigen. Wenn Sie, was ja nun wohl baldigst geschehen sein[b] wird, selbst Docent sein werden, werden Sie die tiefe Trauer um die ehemalige schöne – nun verlorene freie Zeit kennen lernen. |
Zu meinem Erstaunen sehe ich, welch’ riesige Pfingstspritzen[4] Sie Sich leisten – bis nach Heidelberg! Vermuthlich waren Sie in Ihrer Heimath?
Von hier aus ist wenig mitzutheilen. Alles geht den Ihnen bekannten Gang weiter. Der Verein[5] hat einige tüchtige neue Mitglieder u. ich denke, es wird ein ganz blühendes Semester anstehen. Kleinigkeiten des hiesigen Lebens zu erzählen, wollen wir der mündlichen Unterhaltung vorbehalten, die Sie ja gelegentlich Ihrer Rückreise in Aussicht stellen.
Nur Eines! Die Gründungen neuer philosophischer Zeitschriften schwirren durch die Luft. Dr. Göring[c][6] sagte mir, er habe die Absicht gehabt, eine zu gründen, Noiré[7] soll dieselbe Absicht haben,[d] u. Sie sprachen ja auch davon[8]. Und schließlich will auch eine hiesige Verlagsbuchhandlung ganz spontan eine philos[ophische] Zeitschrift ins Leben rufen u. hat mich mit der Gründung[9] beauftragt. Erst wollte ich Ihnen die Sache aufbündeln – aber man hat sich nun einmal meine Wenigkeit in den Kopf gesetzt. Wenn die Zeitschrift[e] erst wirklich in die „Welt der Erscheinung“[10] getreten, werde ich mir er|lauben, Ihnen nähere Mittheilungen[11] zu machen – bis dahin lassen Sie wohl die Sache unter uns.
Was macht Ihre Arbeit[12]? Haben Sie schon eine Universität gewählt, der Sie die Gunst Ihrer Habilitation gewähren wollen? Endlich – haben Sie sich nunmehr in[f] die Hauptstadt ganz eingelebt? Lassen Sie nur das bescheidenere Bild Leipzigs nicht ganz durch den[g] Glanz der Residenz verdunkeln – auch hier gab es einige schöne Tage!
Wenn Sie meinen Vetter durch Zufall oder sonst wiedersehen, bitte, erwidern Sie in meinem Namen seine Grüße – und nun nehmen Sie selbst meine besten Grüße u. gedenken Sie gewogen[h] Ihres
R. Aven[arius].
Wann ungefähr denken Sie Leipzig zu besuchen?
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
3↑zu meinem Vetter ] nicht ermittelt. Zweige der Familie Avenarius lebten in Berlin; die Brüder von Richard Avarius’ Vater, Eduard Avenarius, unterhielten in Berlin eine Firma für Brennereibedarf (vgl. Ludwig Avenarius: Avenarianische Chronik. Blätter aus drei Jahrhunderten einer deutschen Bürgerfamilie. Mit einem Vorwort v. Ferdinand Avenarius u. Buchschmuck v. Hannes Avenarius [1887–1954]. Leipzig: Reisland 1912, S. 111). Es kann aber auch entweder ein Mitglied der Familie Brockhaus oder der Familie (Richard) Wagner gemeint sein, vgl. NDB.5↑Der Verein ] der Akademisch-philosophische Verein zu Leipzig, gegründet von Avenarius und zeitweise geleitet von Vaihinger (vgl. Vaihinger: Der akademisch-philosophische Verein zu Leipzig. In: Philosophische Monatshefte 11 (1875), S. 190–192).6↑Göring ] Carl Göring (1841–1879), seit 1877 ao. Prof. der Philosophie in Leipzig (Rudolf Eisler: Philosophen-Lexikon. Berlin: E. S. Mittler & Sohn 1912, S. 210); Mitherausgeber der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie.7↑Noiré ] Ludwig Norié (1829–1889), Gymnasiallehrer in Mainz (Eisler: Philosophen-Lexikon 1912, S. 507–508); hat keine Zeitschrift gegründet.8↑Sie sprachen ja auch davon ] vgl. Vaihinger: Wie die Philosophie des Als Ob entstand. In: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen Bd. 2. Hg. v. Raymund Schmidt. Leipzig: Meiner 1921, S. 190: Im Herbst 1875 kam Wundt nach Leipzig. Seine erste Vorlesung war über Logik und ich hörte sie mit großem Interesse und Nutzen. Seine Art sagte mir in jeder Hinsicht zu. Gerne wäre ich um seinetwillen in Leipzig geblieben, ich faßte schon den Plan einer „Zeitschrift für reine und angewandte Logik“, für die ich sein Interesse zu gewinnen Aussicht hatte.9↑mit der Gründung ] die Rede ist von der Zeitschrift Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, die ab 1877 in Fues’s Verlag (R. Reisland) erschien.10↑„Welt der Erscheinung“ ] Anspielung auf Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse § 132.11↑nähere Mittheilungen ] das Erscheinen des 1. Heftes der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie ist gemeldet im Septemberheft von: Philosophische Monatshefte 12 (1876), S. 492–430.12↑Ihre Arbeit ] die Rede ist von Vaihingers Habilitationsschrift: Da ich aus Familienrücksichten eine der süddeutschen Heimat nahegelegene Universität zur Habilitation wählen mußte, siedelte ich im Herbst 1876 nach Straßburg über, wo mir Laas günstig entgegenkam. […] Im übrigen teilte Laas mit dem ihm verwandten Avenarius die positivistische Neigung, alle weiteren subjektiven Zutaten als unberechtigt und nutzlos zu eliminieren, während mein Bestreben immer darauf ging, den praktischen Wert und Nutzen jener theoretisch unberechtigten Begriffe des alten Idealismus zu betonen und festzuhalten. In den letzten Monaten des Jahres 1876 schrieb ich nun als Habilitationsschrift meine Gedanken in einem großen Manuskript nieder, dem ich den Titel gab: „Logische Untersuchungen. 1. Teil: Die Lehre von der wissenschaftlichen Fiktion.“ Da ich seit mehreren Jahren das Material sorgfältig gesammelt und oft und gründlich durchdacht hatte, ging die Niederschrift rasch vor sich. Zu Neujahr reichte ich das Manuskript ein und Ende Februar 1877 hatte ich schon die venia legendi in der Hand. Was ich der Fakultät einreichte und was sie in dieser Weise approbierte, das ist genau dasselbe, was im Jahre 1911 als „erster prinzipieller Teil“ der „Philosophie des Als Ob“ im Druck erschienen ist (Vaihinger: Wie die Philosophie des Als Ob entstand, 1921, S. 191–192).▲