Bibliographic Metadata
- TitleRichard Avenarius an Vaihinger, Leipzig, 16.4.1876, 2 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 m, Nr. 1
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 m, Nr. 1
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Richard Avenarius an Vaihinger, Leipzig, 16.4.1876, 2 S., hs., Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 1 m, Nr. 1
Leipzig, 16. April 1876
Blücherstr.[1] 10.III
Hochverehrter Herr Dr.!
Wennschon ich bedaure, daß meine Broschüren[2] Sie veranlaßt haben, Ihre Milliarden Correspondenzen um eine zu vermehren, so freue ich mich doch lebhaft, daß mir dadurch Gelegenheit geworden ist, durch Sie selbst von Ihrem Befinden u. Ergehen zu hören. Nun, wie es scheint, haben Sie Sich ja bereits so ziemlich in der zukünftigen Weltstadt eingelebt, Sich an den liebenswürdigen Ton der holden Berliner und ihre Miniatur-Pferdefleisch-Invectiven[a] gewöhnt? Wie sind Sie denn mit Ihrer Stubenwirthin zufrieden? u. haben Sie den locus communis[3] in einer menschlich erreichbaren Nähe? Die Lage Ihrer Wohnung[4] ist nicht günstig u. der Preis scheint viel[b] übertrieben zu sein. |
Ueber den Eindruck, den „Tristan u. Isolde“[5] auf Sie gemacht hat, hätte ich noch gern[c] etwas Näheres gehört, allein Sie erwähnen ihn mit keinem Sterbenswörtchen.
Auf Ihren Artikel über A. Lange[6] in der „Illustrirten Zeitung“ will ich fahnden und sobald ich ihn erwische, werde ich ihn in fröhlicher Erinnerung an Ihren Disput[7] verschlingen.
Hier in Leipzig schleppt sich Alles in der bekannten Weise hin – es sind eben Ferien – saison morte! So ist denn von hier aus nichts zu berichten. Ich selbst arbeite staete[8] an meiner Vorlesung u. finde dabei über Erwarten reiches Material zur Bestätigung meiner Theorie.
Ihre Empfehlung an das Ehepaar Heinze[9] sowie Ihre Grüße an Walter[10] und den anonymen Lievländer[11] sollen gewissenhaft ausgerichtet werden; dagegen bitte ich Sie Pollack[12] von mir zu grüßen.
Die betreffenden Broschüren brauche ich vorläufig nicht, senden Sie sie mir ruhig später. Waren Sie bei Dühring[13]?
Mit bestem Gruß! Ihr
R. Avenarius.
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Blücherstr. ] seit 1.8.1945 Rudolf-Breitscheid-Str., Zentrum-Ost (Gina Klank, Gernot Griebsch: Lexikon Leipziger Straßennamen. Leipzig: Vlg. im Wissenschaftszentrum 1995, S. 184).2↑meine Broschüren ] darunter vermutlich der Prospekt zur Zeitschrift Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, die Avenarius (mit Carl Göring, Max Heinze und Wilhelm Wundt) ab deren ersten Jahrgang 1877 herausgab.4↑Lage Ihrer Wohnung ] das SS 1876 verbrachte Vaihinger an der Berliner Universität, seine Adresse lautete Mohrenstraße 58, ca. 1 km bzw. 15 Minuten von der Universität entfernt (vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studierenden der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin; https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/1385 (1.8.2024)).5↑„Tristan u. Isolde“ ] Oper von Richard Wagner, 1865 in München uraufgeführt; Besuch durch Vaihinger in Berlin nicht ermittelt.6↑Artikel über A. Lange ] vgl. Vaihinger: Friedrich Albert Lange. In: Illustrirte Zeitung. Leipzig, Nr. 1711 vom 15. April 1876, S. 289–290.7↑Erinnerung an Ihren Disput ] vermutlich im Leipziger Akademisch-philosophischen Verein, vgl. Vaihingers Vorwort (Berlin, im Mai 1876) in dessen: Hartmann, Dühring und Lange. Zur Geschichte der deutschen Philosophie im XIX. Jahrhundert. Ein kritischer Essay. Iserlohn: J. Baedeker 1876, S. III u. V: Diese Schrift ist, ähnlich wie meine Aufsätze: »Der gegenwärtige Stand des kosmologischen Problemes« im XI. und: »Die drei Phasen des Czolbe’schen Naturalismus« im XII. Bande der »Philos. Monatshefte«, aus einer Reihe von Vorträgen hervorgegangen, welche ich im Sommersemester 1875 im »Philosophischen Vereine« zu Leipzig gehalten habe. […] Ich habe Lange in dieser Schrift höher gestellt, als man es sonst wohl thut; –und ich habe auch dagegen schon von competenter Seite manch beachtenswerthen Einwand erfahren. Ich glaube jedoch unbeschadet der Berechtigung fremder Ansichten – meine Ansicht festhalten zu müssen und habe dieselbe auch in einem (von einem Bilde Lange’s begleiteten) Nekrolog in der »Illustrirten Zeitung« Nr. 1711 (15. April 1876) vertreten. Und dieselbe Ansicht hat auch Cohen im Aprilheft der »Preussischen Jahrbücher« ausgesprochen.9↑Ehepaar Heinze ] Max Heinze (1835–1909), seit 1875 o. Prof. für Geschichte der Philosophie an der Universität Leipzig, seit 1864 verheiratet mit Klara Lepsius (1845–1943; NDB).10↑Walter ] vermutlich Julius Walter (1841–1922) aus Wolmar, Livland (heute Valmiera in Lettland), 1870 in Jena promoviert, 1873 habilitiert, wurde 1876 o. Prof. in Königsberg (BEdPh).12↑Pollack ] gemeint ist wahrscheinlich Chaym Wolf Pollack, Student der Berliner Universität, z. B. im SS 1876 (https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/1385 (1.8.2024)). Näheres nicht ermittelt.13↑bei Dühring ] vgl. Vaihinger: Wie die Philosophie des Als Ob entstand. In: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen Bd. 2. Hg. v. Raymund Schmidt. Leipzig: Meiner 1921, S. 191: Gleichzeitig brachte ich auch in der Berliner Zeit im Sommer 1876 mein erstes philosophisches Buch zum Druck: „Hartmann, Dühring und Lange. Zur Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert. Ein kritischer Essay.“ Es waren Vorträge, die ich in dem akad.-philosoph. Verein in Leipzig gehalten hatte. Mir erschien der Kantisch gerichtete Verfasser der „Geschichte des Materialismus“ der richtige Mittelweg zwischen der spiritualistischen Metaphysik von Ed. v. Hartmann einerseits und dem materialistischen Positivismus von E. Dühring andererseits. Die beiden Letztgenannten lernte ich übrigens auch in Berlin persönlich kennen.▲