Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an Friedrich Albert Lange, Leipzig, 9.5.1875, hs., Stadtarchiv Duisburg, 46-001 (Nachlass Friedrich Albert Lange), abgedruckt und kommentiert in: Friedrich Albert Lange: Über Politik und Philosophie. Briefe und Leitartikel 1862 bis 1875. Hg. u. bearbeitet v. Georg Eckert. Duisburg: Walther Braun 1968 (Duisburger Forschungen Beiheft 10), Nr. 150, S. 354–355.
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- Place and Date of Creation
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- Physical LocationStadtarchiv Duisburg, 46-001 (Nachlass Friedrich Albert Lange), abgedruckt und kommentiert in: Friedrich Albert Lange: Über Politik und Philosophie. Briefe und Leitartikel 1862 bis 1875. Hg. u. bearbeitet v. Georg Eckert. Duisburg: Walther Braun 1968 (Duisburger Forschungen Beiheft 10), Nr. 150, S. 354–355.
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Vaihinger an Friedrich Albert Lange, Leipzig, 9.5.1875, hs., Stadtarchiv Duisburg, 46-001 (Nachlass Friedrich Albert Lange), abgedruckt und kommentiert in: Friedrich Albert Lange: Über Politik und Philosophie. Briefe und Leitartikel 1862 bis 1875. Hg. u. bearbeitet v. Georg Eckert. Duisburg: Walther Braun 1968 (Duisburger Forschungen Beiheft 10), Nr. 150, S. 354–355.
Regest: dankt für die Anregungen durch Langes Werk[1] (Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart); wendet sich an Lange mit der Frage der Unterscheidung des Begriffs der Hypothese vom dem der wissenschaftlich Fiktion: „Ich hatte schon früher nemlich [!], besonders beim Studium der Mathematik und Physik die Beobachtung gemacht, daß vorzüglich in diesen […] Wissenschaften häufig Annahmen gemacht werden, die man jedenfalls unrichtig mit ‚Hypothesen‘ bezeichnet, und für die mir der richtige Ausdruck allein ‚wissenschaftliche Fictionen‘ zu sein scheint. […] Ich habe Beispiele hierfür aus allen Gebieten der Natur- und Geisteswissenschaften gesammelt; und glaube an vielen Stellen Ihrer Geschichte des Materialismus jene Ansicht theils angedeutet theils durchgeführt führt zu finden, daß viele wissenschaftl[iche] Annahmen nicht als ‚Hypothesen‘, sondern nur als ‚bewußte Fictionen‘ bezeichnet werden können. Der äußerliche Unterschied beider scheint mir darin zu liegen, daß die Hypothese mit dem Anspruch auftritt, den wirklichen Verhältnissen und Zusammenhang der Dinge zu entsprechen und durch die fortschreitende Erkenntniß als wirklich erwiesen zu werden. Die Fiction dagegen ist sich bewußt, dem wirklichen Zusammenhang nicht zu entsprechen, sondern nur eine Hilfsvorstellung, eine Art Gerüst zu sein. Ich glaube, daß eine Theorie dieser bisher nicht beachteten ‚wissenschaftlichen Fiction‘ ein dankenswerther Beitrag zur Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre wäre; indem dadurch vielen Mißverständnißen vorgebeugt würde. – Ich enthalte mich, meine Gedanken hierüber weiter hier auszuführen, und erlaube mir nur, Sie ergebenst zu bitten, mir Ihre Ansicht über meine obigen Gedanken mitzutheilen[2], und ob Sie das Thema für ein dankenswerthes halten. Ich wenigstens glaube, daß meine Gedanken hierüber sich ganz auf dem Boden der kritischen Philosophie bewegen und gestehe, wesentlich durch die Lectüre Ihres Werkes darin bestärkt worden zu sein.“
Kommentar der Herausgeber
1↑Anregungen durch Langes Werk ] vgl. Vaihinger rückblickend (in: Wie die Philosophie des Als Ob entstand. In: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen Bd. 2. Hg. v. Raymund Schmidt. Leipzig: Meiner 1921, S. 188–189): Noch von einer anderen Seite her wurden jene Wintertage von 1874 auf 75 von entscheidender Bedeutung für mich. Um jene Zeit erschien die zweite, sehr erweiterte und mit vielem wissenschaftlichen Material bereicherte Auflage der „Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart“ von Friedrich Albert Lange. In seiner ersten Auflage hatte ich das Buch schon in Tübingen kennen und schätzen gelernt, aber es hatte keinen tieferen Eindruck auf mich gemacht, weil der wissenschaftliche Apparat des Buches in seiner damaligen Form zu ungenügend war. Jetzt, als diesem Mangel abgeholfen war, kam das Buch zu rechter Zeit in meine Hände. Jetzt hatte ich endlich den Mann gefunden, nach dem ich während der Tübinger vier Jahre mich immer vergeblich ausgeschaut hatte: ich fand den Führer, den Meister, den ,,Lehrer im Ideal“. Hier herrschte der Geist, der mich selbst mehr oder minder unklar vorwärts trieb, in voller Klarheit und zugleich in schöner Form: einerseits höchste Achtung vor den Tatsachen, genaue Kenntnis der Naturwissenschaften und zugleich Beherrschung der ganzen Kulturgeschichte, andererseits Kantischer Kritizismus, aber gemildert und erweitert durch Schopenhauer und vor allem ein hoher ethischer Schwung und in bezug auf die religiösen Dogmen einerseits schärfster Radikalismus in der Theorie, andererseits weitherzige Toleranz in der Praxis. Alles dies hatte ich auch angestrebt, aber nirgends hatte ich das alles beieinander gefunden. Jetzt stand das Angestrebte und Ersehnte als vollendetes Meisterwerk vor mir. Von diesem Zeitpunkt an nannte ich mich einen Schüler von F. A. Lange. Ich machte mich natürlich auch mit seinen übrigen Publikationen bekannt, und besonders sein Buch über die „Arbeiterfrage“ und seine Betätigung in der letzteren zeigten mir auch darin einen Mann von weitem Blick und von warmem Herzen. Was mir aber die „Geschichte des Materialismus“ für meine damaligen speziellen Studien besonders wertvoll machte, das war die Beobachtung, daß F. A. Lange auch schon in bezug auf das methodische Problem der Fiktionen auf dem richtigen Wege war. Andererseits herrschte aber in diesem Punkte bei ihm eine gewisse Unsicherheit und Unklarheit, so daß ich nun hoffen konnte, in diesem Punkte auf Grund meiner seitherigen gründlichen Studien über diese Spezialfrage über ihn hinauszukommen.▲