Bibliographic Metadata
- TitleVaihinger an August Seidel, Halle, 24.3.1933, 2 S., Ts. mit eU, aufgeklebt im Vorsatz der msl. Abschrift der Preisschrift Vaihingers von 1873, Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 1706
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- Physical LocationStaatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 1706
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Vaihinger an August Seidel, Halle, 24.3.1933, 2 S., Ts. mit eU, aufgeklebt im Vorsatz der msl. Abschrift der Preisschrift Vaihingers von 1873, Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 1706
Halle a. S., Freitag d. 24.3.1933.
Lieber Freund Seidel[1]!
Indem ich Ihnen heute Ihrem Wunsche gemäss meine Preisschrift[2] „Die neueren Theorien des Bewußtseins“ u. s. w. übersende, muss ich, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, folgendes voranschicken.
Die Preisfrage war für das Jahr 1872/73 als Thema gestellt worden. Ich war damals 20 resp. 21 Jahre alt, also noch zu jung für ein so überaus schwieriges Problem. Dem entsprechend war ich damals für dieses Thema noch nicht reif genug[3]. Unter der Überfülle des historischen Stoffes drohte ich zu erliegen. Dazu kam, dass ich gegen Ende der Niederschrift erkrankte und daher nicht mehr die Kraft besass, gerade den so wichtigen Schluss befriedigend zu gestalten.
Die durch die ganze Arbeit festgehaltene Grundansicht, das Bewusstsein sei eine Folge einer inneren Spannung zweier Prinzipien, war eine Weiterbildung desjenigen, was sich in den Vorlesungen des Professor Dr. Jakob Reiff[4] in Tübingen gehört hatte, welcher eben auch diese Preisaufgabe formuliert hat. Der andere Ordinarius der Philosophie zu jener Zeit war Christoph Sigwart, welcher aber dieser Preisaufgabe neutral gegenüberstand.
Jenes metaphysische Prinzip von Reiff, dass das Bewusstsein einem Kampfe zweier Kräfte entspringe, verknüpfte sich bei mir mit meiner eigenen Idee, jene beiden Kräfte deckten sich im wesentlichen mit dem Gegensatz von Intellekt und Wille, wobei ich aber den Willen resp. den „Trieb“ in den Vordergrund stellte, da mir der Trieb speziell in der Form des Triebes der Aneignung das Primäre zu sein schien. |
Ein Jahr nach der Ausarbeitung der Preisschrift, also 1874 legte ich dieselbe als Inauguraldissertation der Fakultät nochmals vor. Eine Möglichkeit, die Handschrift umzuarbeiten, bestand nicht mehr, da in diesem Jahr mich noch andere wichtigere Studien ganz in Anspruch nahmen.
Durch meine Übersiedelung nach Leipzig Oktober 1874 nahm mein ganzes Studium eine andere Richtung, insbesondere verliess ich alle Beschäftigung mit Metaphysik und so liess ich die Arbeit auch definitiv liegen.
Doch kann man in der oben erwähnten an Schopenhauer erinnernden Idee, dass der Trieb das Primäre im Geiste sei, eine Vorstufe meiner späteren philosophischen Anschauungen erblicken[a], dass der Wille den Vorrang habe vor dem Denken, und dass das Denken nur ein Organ, ein organisches Mittel des Willens sei. Daraus erklärt sich dann auch, dass dieses Mittel sich im Lauf der Zeit zum Selbstzweck machen kann: Dieses „Gesetz der Überwucherung des Mittels über den Zweck“[5], der Verzwecklichung des Mittels, stand (nach meinen vielen Aufzeichnungen aus jener Zeit) damals im Mittelpunkt meines Interesses.
Das war auch der Fall mit dem Darwinismus, welcher den Brennpunkt aller wissenschaftlichen Fragen der damaligen Zeit ausmachte.
Ihr freundschaftlich ergebener
Hans Vaihinger
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Freund Seidel ] Seidel war Initiator einer Vaihinger-Gesellschaft in Berlin sowie Herausgeber von: Die Philosophie des Als Ob und das Leben. Festschrift zu Hans Vaihingers 80. Geburtstag. Berlin: Reuther & Reichard 1932.2↑meine Preisschrift ] vgl. das Verzeichnis: Erwerbungen von 1997 bis 2021 (https://staatsbibliothek-berlin.de/fileadmin/user_upload/zentrale_Seiten/handschriftenabteilung/abendlaendische_handschriften/pdf/Erwerbungen.pdf (29.9.2024)), S. 221: MS. GERM. FOL. 1706 / Hans Vaihinger / Papier · I + LXXII +580 S. · 29×22 · 1872/1873 / Schreibheft mit steifer Broschur, Titel auf dem Vorderdeckel: Beilage e. Inauguraldissertation. (Gekrönte Preisschrift). Über die neueren Theorien des Bewußtseins; im Spiegel des Vorderdeckels und auf Bl. I* aufgeklebt ein Brief Vaihingers an [August] Seidel (*1863. † ?, Redakteur und Fachautor für Lehr- und Wörterbücher), Halle/Saale, 24.3.1933, maschinenschriftl. mit eigenhändiger Unterschrift aus dem Nachlaß Arnold Christian Felix Kowalewskis (* 1873, † 1945, Philosoph), langjähriger Freund und Vertrauter Vaihingers · 2002 von der Tochter, Sabina Laetitia Kowalewski, Bonn, erworben (acc. ms. 2002.9). / Hans Vaihinger (* 1852, † 1933, Philosoph, Kantforscher): Es sollen die neuen Theorien des Bewusstseins nach ihrer metaphysischen Grundlage und ihrer Bedeutung für die Psychologie entwickelt und geprüft werden. – Preisaufgabe der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen für das Jahr 1872/1873. Korrigiertes Autograph des Verfassers, z. T. mit Bleistiftzusätzen von anderer Hand; unveröffentlicht. Das Manuskript wurde 1874 der Fakultät nochmals als Dissertation vorgelegt: Inauguraldissertation (Gekrönte Preisschrift). Über die neueren Theorien des Bewußtseins. Das Manuskript wurde 1933 an August Seidel (s. o.), u. a. Herausgeber der Festschrift für Hans Vaihinger zum 80. Geburtstag (Die Philosophie des Als Ob und das Leben, Berlin 1932) und Begründer der Vaihinger-Gesellschaft, geschickt. Seidel wollte es umarbeiten, ergänzen, bis zur Gegenwart fortführen und publizieren. Vaihinger dagegen schlug ihm Arnold Kowalewski als (kompetenteren) Herausgeber vor. 1934 setzte die Witwe Elisabeth Vaihinger offensichtlich die Abgabe des Manuskripts an Kowalewski durch (vgl. Brief an Kowalewski, Halle / Saale, 1.3.1934 im Nachlaß Kowalewski). Eine Herausgabe ist nicht erfolgt (der letzte Satz meint: ein Abdruck ist nicht erfolgt). Vgl. die weitere Überlieferung: Vaihinger: Die neueren Theorien des Bewußtseins nach ihrer metaphysischen Grundlage und ihrer Bedeutung für die Psychologie. 3 Teile. Nicht gedruckt; überliefert als Reproduktion des eigenhändigen Ms. (Universitätsarchiv Tübingen).3↑nicht reif genug ] vgl. die Begutachtung von 1873: V. Die philosophische Facultät. In: Bekanntmachung der Ergebnisse der akademischen Preisbewerbung vom Jahre 1872 bis 1873 und der neuen für das Jahr 1873 bis 1874 bestimmten Preisaufgaben. Tübingen: Ludwig Friedrich Fues 1873. In (Sammelschrift): Tübinger Universitätsschriften aus dem Jahre 1873. Tübingen: Heinrich Laupp 1873, Nr. 5, S. 10–11 (das Zeichen / signalisiert Absatz): [Die philosophische Facultät] hatte die Aufgabe gestellt: / „Es sollen die neueren Theorieen des Bewußtseins nach ihrer metaphysischen Grundlage und ihrer Bedeutung für die Psychologie entwickelt und geprüft werden“. / Sie hat zwei Bearbeitungen derselben erhalten. Die eine mit dem Motto: Whoever faith fully and firmly endeavours to obtain a definite idea u. s. w., die andere mit dem Motto: Das Bewußtsein ist das fundamentale Kriterium specifisch-seelischen Lebens. / Der Verfasser der ersten Arbeit hat derselben eine durch die Stellung der Aufgabe nicht gebotene Ausdehnung gegeben, indem er die Lehre vom Bewußtsein durch die ganze Geschichte der Philosophie verfolgt. Er hat aber auch die neuere Philosophie mit einer Vollständigkeit behandelt, die auch auf die untergeordneten Erscheinungen der psychologischen Litteratur sich erstreckt. Hat nun der Verfasser bei dieser umfassenden Behandlung des geschichtlichen Stoffes einen ungemeinen Fleiß dokumentirt, so läßt sich zwar theilweise die Genauigkeit in der Auffassung des Einzelnen und die methodische Bearbeitung des Stoffes vermissen, es läßt sich aber doch der wissenschaftliche Geist nicht verkennen, mit welchem er seine Aufgabe angefaßt hat. Er hat sowohl die metaphysische, als | die psychologische Seite der verschiedenen Theorieen im Wesentlichen gut entwickelt, und es ist ihm gelungen, den richtigen Gesichtspunkt für die Auffassung und Beurtheilung derselben zu gewinnen. / Der Verfasser der zweiten Arbeit behandelt die Aufgabe nicht in dem Umfang wie die erste, und er beschränkt sich auch in der neueren Psychologie mehr auf die bedeutenderen Vertreter derselben. Die Arbeit zeichnet sich aber vor der ersten durch eine methodischere Bearbeitung des Stoffs aus, und es ist insbesondere anzuerkennen, daß sie die metaphysische und die empirische Richtung der neueren Psychologie schärfer unterschieden hat. Die metaphysische Grundlage der Theorieen, namentlich bei Hegel und Herbart, ist weniger genügend erörtert, befriedigender ist die Analyse ihrer psychologischen Bedeutung. Der Verfasser hat im Wesentlichen richtig erkannt, worauf es im Begriffe des Bewußtseins ankommt, und er macht seine Ansicht mit Erfolg, insbesondere gegen den Materialismus geltend; es wäre jedoch zu wünschen, daß er die dieselbe in der Auffassung und Beurtheilung der verschiedenen Bewußtseins-Theorieen consequent festgehalten hätte. / Die Facultät vermochte keine dieser Arbeiten der anderen unbedingt vorzuziehen und hielt beide für des Preises würdig. Sie stellte den Antrag auf Bewilligung eines zweiten Hauptpreises, welchem das Königliche Ministerium des Kirchen- und Schulwesens die Genehmigung ertheilt hat. / Als Verfasser der ersten Arbeiter ergab sich: / Karl Eugen Hans Vaihinger aus Cannstatt, Studierender der Philosophie im evangelisch-theologischen Seminar; / als Verfasser der zweiten: / Karl Johann Neuburger aus Waldsee, Studierender der Theologie im Wilhelmsstift. Vaihingers Arbeit blieb ungedruckt, erst 1938 erschien daraus: Einleitung. In: Arnold Kowaleski (Hg.): Die „Einleitung“ der philosophischen Preisschrift Hans Vaihingers. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 25 (1938), S. 149–190, hier: S. 154–190.4↑Jakob Reiff ] 1810–1879, 1843 ao. Prof., 1855 o. Prof. in Tübingen, 1863 Rektor. Veröffentlichte u. a.: Das System der Willensbestimmungen oder die Grundwissenschaft der Philosophie (1843); BEdPh.5↑„Gesetz der Überwucherung des Mittels über den Zweck“ ] bei Wilhelm Wundt (Ethik. Eine Untersuchung der Thatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens. Stuttgart: Enke 1892, S. 266) formuliert als Heterogonie der Zwecke, vgl. Vaihinger: Wie die Philosophie des Als Ob entstand. In: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen Bd. 2. Leipzig: Felix Meiner 1921, S. 174–203.▲