Bibliographic Metadata
- TitleSigmund Freud an Vaihinger, Wien, 27.1.1925, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf PROF. DR. FREUD | WIEN IX., BERGGASSE 19, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 8 r, Nr. 2
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- Physical LocationStaats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 8 r, Nr. 2
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Sigmund Freud an Vaihinger, Wien, 27.1.1925, 2 S., Ts. mit eU, Briefkopf PROF. DR. FREUD | WIEN IX., BERGGASSE 19, Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, Aut. XXI, 8 r, Nr. 2
27.I.25.
Verehrter Herr Kollege!
Ich wusste bereits von Dr. Wanke, dass Sie in seiner Kuranstalt Aufenthalt genommen hatten. Für die Zusendung Ihres Zeitungsartikels[1] sage ich Ihnen wärmsten Dank. Er erhält einen besondern Wert durch den Umstand, dass er von Ihnen herrührt und ein Zeugnis dafür ablegt, wie sehr Ihre Stellung zur Psychoanalyse von der anderer Philosophen entfernt ist.
Ich darf mit Genugtuung darauf hinweisen, dass wir unsere Beziehungen zu Nietzsche und Schopenhauer niemals verleugnet haben. Auch in einer unserer Zeitschriften[2] wurde mit Recht darauf hingewiesen, dass Schopenhauer den Begriff der Verdrängung bereits erkannt hatte. Ich habe ihn allerdings nicht daher bezogen, denn ich bin erst in den letzten Jahren ein Leser dieses grossen Denkers geworden. |
Einigermassen unzufrieden bin ich damit, dass auch Sie Alfred Adler unter den „Fortbildern“[a] der Psychoanalyse anführen. Seine Theorie ist im Gegenteile eine volle Leugnung der Psychoanalyse, gewissermassen eine Trotzreaktion auf dieselbe.
Mit dem Ausdruck hochachtungsvoller Ergebenheit und besten Wünschen für Ihr körperliches Befinden Ihr
Freud
Kommentar zum Textbefund
Kommentar der Herausgeber
1↑Ihres Zeitungsartikels ] vgl. Vaihinger: Schopenhauer und die Psychoanalyse. In: Münchner Neueste Nachrichten, Nr. 4 vom 4.1.1925, S. 1–2. Kaum leserliche Reproduktion: https://bildsuche.digitale-sammlungen.de/index.html?c=viewer&bandnummer=bsb00133549&pimage=83 (10.3.2022). Der Artikeltext lautet u. a.: Der Oktober 1924 brachte eine Tagung der Schopenhauer-Gesellschaft, und zwar diesmal in Weimar […]. Einen wertvollen Beitrag hierzu brachte auch der Vortrag von Sanitätsrat Dr. Wanke, dem bekannten Friedrichrodaer Nervenarzt über „Psychoanalyse und Schopenhauer“. Schopenhauer hat der (vor 25 Jahren von Prof. Dr. Freud in Wien begründeten) Psychoanalyse in mehrfacher Hinsicht vorgearbeitet […]. So bereitete er den Begriff der „Verdrängung“ vor, der in der Freudschen Psychoanalyse eine so große Rolle spielt, indem Freud lehrt, daß und wie einerseits Dichter und Künstler, andererseits Neurotiker und sogar Verbrecher durch unbewußte Gedanken angetrieben und geleitet werden. […] Diese allgemeinen Grundsätze gelten auch noch für diejenigen Richtungen, die zwar von Freud ausgegangen sind, aber sich dann von ihm entfernt haben, so z. B. von dem Nervenarzt Dr. Alfred Adler in Wien, der die von ihm so genannte Richtung der Individualpsychologie ausgebildet hat, und zwar mit recht nennenswertem Erfolg. Ein Kongreß dieser Spezialrichtung fand vor 2 Jahren in München statt, wo sie auch eine sehr rührige Ortsgruppe besitzt. Indem nun Freud, seine Schüler und seine Fortbildner in der angegebenen Weise das Seelenleben nervös Erkrankter analysieren, wollen sie dadurch, d. h. eben schon durch diese Analyse selbst die Kranken von ihren Leiden befreien […]. Die Psychoanalyse glaubt, durch ihre Methode dem modernen Menschen dadurch zu helfen, daß die durch die Kultur notwendigen „Verdrängungen“ der sexuellen Bedürfnisse unschädlicher als bisher gemacht werden können. Näheres darüber findet man in den von Dr. Wanke soeben herausgegebenen Buche „Psychoanalyse, Geschichte, Wesen, Aufgaben und Wirkung. Für Aerzte, Geistliche und Juristen sowie für Eltern, Lehrer und Erzieher dargestellt“ (Verlag von Marhold in Halle a. S. 1924, 304 Seiten). Das treffliche Buch geht besonders auf die Bedürfnisse der öffentlichen und privaten Pädagogik ein. | Eine besondere Rolle spielen bei Wanke wie schon bei Freud und bei Schopenhauer die Träume. In den Träumen gestaltet sich das unbewußte Seelenleben zu Bildern, deren Analyse von besonderer Wichtigkeit sein kann. Die aus der Seele aufsteigenden „Bilder“ sind so bedeutsam, daß Freud eine vielbändige Zeitschrift ihnen widmet unter dem Titel „Imago“ d. h. das Bild, die imaginären Vorstellungen. Hier berührt sich die Psychoanalyse mit der „Philosophie des Als Ob“. Dort wie hier handelt es sich um die mehr oder minder bewußten, mehr oder minder zweckmäßigen Erdichtungen oder Als-Ob-Vorstellungen unserer Seele. Das Als Ob beherrscht eben unser ganzes Innenleben, sowohl das wissenschaftliche, als das künstlerische, sowohl das gesunde, als das kranke. Mit dem letzteren beschäftigt sich die Psychoanalyse. Für sie ist Schopenhauer ebenso ein Vorgänger, wie er es für die „Philosophie des Als Ob“ ist. Vgl. darüber Freud: Rundbrief Nr. 3 von Mitte Februar 1925. In: Gerhard Wittenberger u. Christfried Tögel (Hg.): Die Rundbriefe des „Geheimen Komitees“ Bd. 4 1923–1927. Tübingen: edition diskord 2006, S. 233–237, hier 234–235: Im vorigen Monat erhielt ich einen liebenswürdigen Brief von Vaihinger, dem Philosophen des „Als ob“, eine angebliche Pachtung Adlers. Dem Schreiben lag ein Feuilleton desselben aus den Müchner Nachrichten vom 19. Januar bei. Bei dem Ansehen V’s ist es immerhin nicht gleichgültig, daß er sich so respektvoll in der Öffentlichkeit über uns äußert. Er versäumt es natürlich nicht, auf die Ahnungen der Psychoanalyse bei Schopenhauer hinzuweisen und hat ja Recht darin.2↑einer unserer Zeitschriften ] seit 1913 erschienen: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und die Zeitschrift Imago.▲